New Orleans:Ein Jahr danach

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Am 29. August 2005 zerstörte Hurrikan "Katrina" New Orleans - bis heute hat sich die Stadt nicht erholt.

Reymer Klüver

Seit" an Seit" werden sie beten, Präsident und Bürgermeister. Am Dienstag, dem ersten Jahrestag des furchtbaren Sturms. Dann wird der eine für den Rest des Tages die Fortschritte preisen, und der andere wird all die Hemmnisse aufzählen, die der unausweichlichen Erholung der Stadt noch im Wege stehen. So in etwa dürften George W. Bush und Ray Nagin den "National Day of Remembrance", den nationalen Gedenktag für die Opfer des Hurrikans Katrina, in New Orleans begehen. Mehr als 1500 Menschen an der amerikanischen Golfküste kamen um, die meisten in der Stadt. Wochenlang versank sie in den Fluten. Bis heute hat sie sich nicht erholt. Nicht weniger als 110 Milliarden Dollar hat Washington zur Beseitigung der Schäden an der Golfküste bereit gestellt. Doch der Wiederaufbau kommt nur schleppend voran, vor allem in New Orleans.

Metropole der Mörder

Die Dealer und ihre Gangs haben die Stadt zurückerobert. Der Juli war der bislang blutigste seit Katrina und hat die Mordstatistik in New Orleans auf alte Höhen getrieben: 21 Menschen starben gewaltsam. In den Zeiten vor dem Hurrikan fielen im Monat durchschnittlich 22 Menschen Verbrechen zum Opfer. Da war die Einwohnerzahl aber mehr als doppelt so hoch, und New Orleans galt als eine der gefährlichsten Städte der Vereinigten Staaten. Jetzt hat New Orleans, gemessen an der Einwohnerzahl, die höchste Mordrate unter allen amerikanischen Großstädten. Die Polizei ist unterbesetzt. Selbst die Nationalgarde, die nun nachts die verlassenen Straßen patrouilliert, hat bisher nichts an der Misere geändert.

Einstürzende Altbauten

Katrina hat mehr als 200 000 Häuser zerstört oder schwer beschädigt, in New Orleans allein 110 000. Der Kongress in Washington hat als Wiederaufbauhilfe 17 Milliarden Dollar genehmigt. Aber kein Hausbesitzer in New Orleans hat bislang auch nur einen Dollar aus dem Fördertopf erhalten. Die Bundesbürokratie und die Behörden in Louisiana machen sich gegenseitig dafür verantwortlich. "Mich wundert, wie langsam es vorangeht", sagt Louisianas Gouverneurin Kathleen Blanco.

Versickernde Ressourcen

Die 1,4 Milliarden Dollar, die als Überbrückungshilfe für die Evakuierten in den ersten Wochen nach der Katastrophe ausgegeben wurden, waren nach Einschätzung des amerikanischen Rechnungshofes vielfach vergeudet. Weil die Behörden jeweils Kreditkarten mit 2000 Dollar Guthaben ausgegeben hatten, konnten die Prüfer offenbar rekonstruieren, was damit auch bezahlt wurde: Dom Perignon Champagner zum Beispiel, Besuche in Striplokalen oder Jahreskarten für die Saints, die Footballmannschaft von New Orleans. Dazu kommen Abermillionen, die durch hastig vergebene Aufträge verschwendet wurden, etwa für teuer gecharterte Kreuzfahrtschiffe als Notunterkünfte auf dem Mississippi oder für 118 000 Wohnanhänger, deren Schlösser ausgetauscht werden müssen, weil sich herausgestellt hat, dass, wer einen Schlüssel besitzt, die Türen aller anderen Trailerhomes auch öffnen kann.

Flucht ohne Wiederkehr

Immerhin, der Bürgermeister ist wieder zu Hause. New Orleans" Mayor Ray Nagin zog am vergangenen Wochenende in sein renoviertes Heim im Stadtteil Gentilly ein - nach fast einem Jahr. Allenfalls die Hälfte, vielleicht auch nur ein Drittel der vor dem Sturm 465 000 Einwohner der Stadt ist aus dem Exil zurück, genaue Zahlen hat im allgemeinen Chaos niemand. Im benachbarten St. Bernard Parish sieht es noch schlimmer aus: Wo früher 67 000 Menschen wohnten, leben heute ständig erst wieder 10 000, viele in Trailerhomes. In Houston wiederum, der nächsten Großstadt in Texas, sechs Autostunden entfernt, sind auch jetzt, ein Jahr nach der Katastrophe, noch 150 000 Katrina-Flüchtlinge aus Louisiana. Und kaum einer von ihnen will zurück.

Verlorenes Vertrauen

Katrina, oder besser das Versagen der Behörden nach der Katastrophe, hat das Vertrauen der Amerikaner in ihre Institutionen nachhaltig gestört. Nur die Hälfte glaubt, dass die Regierung aus dem Jahrhundert-Hurrikan gelernt hat und nun besser für den Katastrophenfall gerüstet ist. Mehr als die Hälfte der US-Bürger gibt sogar an, dass sie seit Katrina weniger Zutrauen in die Kompetenz der Mächtigen hat. Und obwohl der Präsident schnelle und umfassende Wiederaufbauhilfe versprochen hatte, sind 70 Prozent der Amerikaner überzeugt, dass die Hurrikan-Opfer nicht die Unterstützung bekommen haben, die sie benötigten.

Die Leiden der Entwurzelten

Mehr als die Hälfte der Patienten im Chalmette Medical Center, 20 Autominuten vom French Quarter entfernt, zeigt Symptome von Depression. Die kaputten Häuser, der schleppende Wiederaufbau, die verlassenen Straßen, die ungewisse Zukunft zehren an den Menschen. "Ich frage meine Patienten, wie geht es Ihnen. Und schon beginnen sie zu weinen", erzählt Bryan Bertucci, der seine Praxis in Containern auf einem Walmart-Parkplatz eingerichtet hat. Aus Bundesmitteln wurden jetzt 34 Millionen Dollar zur psychiatrischen Behandlung von Hurrikan-Opfer in Louisiana bereit gestellt.

Eine Frage der Hautfarbe

Tage nach dem Hurrikan hatten schwarze Abgeordnete der Regierung Rassismus vorgeworfen, weil die Hilfe für die vornehmlich schwarzen Katrina-Opfer in New Orleans so schleppend anlief. Auch ein Jahr später hält die Kritik an. Drei von sechs umfangreichen Studien zur Hurrikan-Hilfe stellen fest, dass die zögerliche Unterstützung Schwarze weiter überproportional trifft, weil viele auf öffentliche Serviceeinrichtungen angewiesen seien, etwa den öffentlichen Nahverkehr. In New Orleans aber fährt beispielsweise erst ein Fünftel der Busse wieder. "Der Rassismus ist hier so offenkundig", klagt die schwarze Bürgerrechtlerin Barbara Major, die der Wiederaufbau-Kommission Bring New Orleans Back vorsaß. Sie wirft Verantwortlichen auf allen Ebenen vor, nichts gegen die Benachteiligung armer Schwarzer zu tun. Tatsächlich ist die Bevölkerungsmehrheit in der Stadt, die vor Katrina zu zwei Dritteln von Schwarzen bewohnt wurde, inzwischen weiß.

Die Bildungsmisere

Nach dem Hurrikan hat der Bundesstaat 107 der 128 öffentlichen Schulen in New Orleans mit der Begründung übernommen, das bereits vor dem Sturm ramponierte Schulsystem würde sonst nie mehr auf die Beine kommen. Recovery District heißt das Unternehmen: Am 7. September beginnt nun das neue Schuljahr im District. 8000 Kinder werden erwartet. Erst 18 Schulen sind wieder geöffnet, und zu Beginn der vergangenen Woche fehlten noch exakt 171 Lehrer. Insgesamt sollen im Herbst bis zu 34 000 Kinder an dann 56 wiederhergestellten öffentlichen Schulen von Stadt und Bundesstaat in New Orleans Platz finden, vor dem Sturm waren es 65 000.

Gebrochene Deiche

Der Army Corps of Engineers, das Pionierkorps der US-Armee, zuständig für den Bau der Deiche und Hochwasserschutzanlagen in New Orleans, hat in einem 6000 Seiten umfassenden Untersuchungsbericht das eigene Versagen eingestehen müssen. Die in weiten Teilen unter dem Meeresspiegel liegende Stadt sei "nur dem Namen nach" vor Hurrikan-Fluten sicher. Selbst nachdem in fieberhafter Eile seit dem Herbst 350 der 560 Kilometer langen Deichlinie repariert worden sind, hat die Stadt kaum besseren Schutz als im August vergangenen Jahres. Noch drei Jahre aber wird es dauern, bis 2010, ehe die Schutzanlagen so ausgebaut sind, dass sie einer Jahrhundertflut standhielten. Katrina gilt als solche Jahrhundertflut.

© SZ vom 28.08.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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