New Orleans:Auftauchen in einer neuen Zeitrechnung

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Langsam geben die Fluten die verheerte Stadt frei, und es wird immer klarer, wie schwierig die Rückkehr in ein Leben unter Normalnull werden wird.

Reymer Klüver

New Orleans, 7.September - Diese Schuhe, überall Schuhe. Kleine, schwarze Kinderlatschen, weiße Turnschuhe, Pumps. Auf dem Trottoir liegen sie, hinter dem Zaun zum Parkplatz, auf der Straßenkreuzung und überall verstreut zwischen den fliegenumschwärmten Müllbergen. In wilder Flucht wurden sie zurückgelassen, in der Panik, dass man vielleicht nicht mitkommen könnte auf einen der Busse da draußen unter den Brücken der Highways, auf einen dieser Busse, die einen endlich der Hölle entrinnen lassen würden.

So also sieht es aus, wenn 20.000 Menschen nach Tagen ohne Hilfe und Versorgung, sich selbst und der Ungnade ihrer Mitgefangenen überlassen, nur noch eins wollen: fort und etwas Besseres finden als den Tod.

Es ist eine surreale Szenerie, die jetzt, in den Tagen nach der Räumung, am Convention Center von New Orleans zu beobachten ist. Vor den Türen stapeln sich mannshohe Müllberge, ein wirrer Haufen von geklauten, neuen Kleidern und Essensresten, von verdreckten Decken, zerbeulten Bierdosen und abgenagten Knochen.

In einer Hecke hängen zwei Weihnachtskugeln, im Rinnstein liegt eine rosa Plüschkatze. Gegenüber von Halle G steht ein ausgeplünderter Streifenwagen, die Räder sind verschwunden, die Radmuttern aber hat einer säuberlich wieder hineingedreht. Über Hunderte Meter erstrecken sich die gewaltigen Dreckhaufen vor dem Kongress-Zentrum, verströmen den süß-sauren, penetranten Geruch, der entsteht, wenn Müll in der feuchten Hitze des Südens zu faulen beginnt.

Keiner hat Zeit gehabt, sie fortzuräumen. Ab und zu fahren Geländewagen mit Soldaten oder Helfern vorbei. Sonst kein Mensch.

Menschen im Zwischenlager

In New Orleans lässt sich in diesen Tagen besichtigen, wie wenig die Zivilisation eigentlich zusammenhält und wie rasch die Menschen auf das Existenzielle reduziert werden: auf den simplen Wunsch zu überleben, noch einmal davonzukommen.

In diesen verlassenen, menschenleeren Straßen wird auf einmal aber auch deutlich, welch Experiment von grotesker Dimension in New Orleans nun gerade beginnt: Eine ganze Stadt soll stillgelegt, ihren Bewohnern auf Zeit entzogen werden, bis sie so wiederhergestellt ist, wie sie bis zum Montag vergangener Woche war - als könne man die Zeit anhalten und die Menschen einfach irgendwo zwischenlagern.

Schon jetzt verkünden sie im Stadtradio eine neue Zeitrechnung: "BK and AK, before ,Katrina' and after", vor und nach dem Hurrikan. Und nun soll es noch eine Zeit dazwischen geben, drei, vier Monate, wer weiß wie lang, bis die Fluten aus der Stadt gepumpt, die Toten geborgen und der Giftschlamm und die gröbsten Schäden beseitigt sind. Bürgermeister Ray Nagin will vorher die Menschen nicht zurücklassen.

Und schon jetzt, eine gute Woche nach der Katastrophe, lässt sich ziemlich klar voraussagen, dass dieser urbane Großversuch am lebenden Objekt fatale Nebenwirkungen haben wird, ein Experiment ausgerechnet mit der Stadt, deren Bewohner sie Big Easy nennen, die Stadt, die alles nicht so schwer nimmt.

New Orleans wird anders sein

Längst nicht alle Menschen wollen fort, weil sie nicht nur um ihre Häuser fürchten, sondern um die Wurzeln ihres Lebens. Von den Hunderttausenden wiederum, die aus New Orleans geflohen sind, werden längst nicht alle wieder in ein Leben unter Normalnull zurückkehren wollen. New Orleans wird sehr anders sein, wenn das Wasser wieder hinaus in den Golf von Mexiko gepumpt ist.

Überall in der verlassenen Stadt sind die Spuren der Verwüstung zu besichtigen, unglaublich war die Wucht des Orkans und die Wut und Not der Menschen. Downtown sieht so aus, als hätte es einen Barrikadenkampf hinter sich. Alte Backsteinhäuser sind im Wind zerbröselt, die Ziegel haben geparkte Autos demoliert.

Laternenglas liegt zerschmettert auf dem Trottoir, überall lagert Müll, fliegen Plastikfetzen über die Straßen. In der Poydras Street, einer der Magistralen der Innenstadt, steht kein Baum mehr. So grimmig fegte der Hurrikan durch die Straßenschneise. Einzig das French Quarter sieht besser aus, vielleicht weil es in der Bourbon Street und den umliegenden Straßenzügen nicht so viele Bäume gibt, vielleicht weil die Menschen, von denen noch eine ganze Reihe ausharrt, schon ein bisschen aufgeräumt haben.

Draußen in den Stadtvierteln schaut es nicht weniger schlimm aus. Überall in Jefferson Parish, einem Vorort, in den die Bewohner für vier Tage zurück durften, liegen Bäume in den Dächern, Zäune wurden wie Papierstreifen umgeweht, Leuchtreklamen abgerissen.

Die Spiegelglasfassade der Wyndham Galleria sieht aus, als sei sie beschossen worden. Am hässlichsten ist es im Osten der Stadt, wo die Straßen Richtung Fluss leicht abfallen und die Häuser, je weiter man schaut, immer tiefer in der schwarzen, stinkenden, unbewegten Brühe versinken.

Die Kreise der Hölle

Peter McMahon übt im Nebenberuf gerade das Amt eines Wächters zur Unterwelt aus. Eigentlich ist der Mann in orangefarbenem Polo-Shirt und beigen Bermudas Hoteldirektor, er leitet für die Hyatt-Kette ein Haus in Atlanta.

Jetzt aber haben sie ihn hierher nach New Orleans geschickt, um das Hyatt direkt neben dem Superdome wieder in Schuss zu bringen. Die Menschen, die zu Zehntausenden im Sturm und an den Tagen danach in der Arena eingepfercht waren, wurden durch die riesige Marmorlobby des Hotels zu den Bussen hinausgeleitet, die sie in Sicherheit brachten.

Nun weist McMahon Reportern den Weg zurück zur Hölle, vorbei an umgeworfenen Bierdosen und vorbei an den Exkrementen der gepeinigten Menschen, die auf dem Weg zur Erlösung nicht mehr an sich halten konnten. "Sie sind hier bloß durchgegangen", sagt McMahon und zieht an seiner Zigarette, das hilft gegen den Gestank. Dann zeigt er den Ausgang zum Superdome und sagt nur: "Viel Glück."

Es ist, als würde man, kaum vom Convention Center hierher gekommen, einen weiteren Kreis der Hölle abschreiten. Als gäbe es noch eine Steigerung von Inferno. Wieder Berge von Decken, Kleidern und Essensresten. Allein die vielen Kühlboxen weisen darauf hin, dass sich die Menschen, die hierher kamen, auf einen etwas längeren Aufenthalt eingerichtet hatten.

Unwirklich still ist es nun. Einem gigantischen, verdreckten Bettlaken gleich, klatscht ab und zu ein großer Fetzen der Isolierschicht vom Dach gegen die Betonhülle des Superdome. Ein Glasportal steht offen, "Gate C, Plaza level" ist zur Orientierung für bessere Zeiten darüber geschrieben.

Aus dem Dunkel der Arena steigt ein infernalischer Gestank empor, eine Pestilenzwolke aus kaltem Schweiß, Urin- und Kotgeruch, das schwüle Aroma tagelanger Not und Todesangst. Irgendwo fließt Wasser, ein ständiges Rauschen, obwohl die Wasserleitungen abgestellt sind.

Es muss noch immer Regenwasser sein. Draußen heizt strahlender Sonnenschein die Kuppel des Superdome auf. Genauso muss es in den Tagen nach dem Hurrikan gewesen sein. Da aber harrten hier 20.000, 25.000 Menschen aus.

Das gewaltige Rund der Zuschauertribüne liegt im Dämmerlicht, so wie in all den Tagen ohne Strom und Lüftung. So düster ist es, dass man kaum die Farbe der Sitze erkennen kann. Aber wer hier einen Liegeplatz auf den Klappsitzen erobert hatte, muss vergleichsweise fast wie im Luxus gelebt haben.

In den Gängen des Kolosseums ist es dagegen stockfinster, man muss aufpassen, wo man hintritt. Die Fußbodenfliesen sind glitschig vor Feuchtigkeit. In diesen Gängen wurden die Frauen von den Jugendbanden vergewaltigt, hier wurden die Wehrlosen ausgeraubt, hier starben die Kranken und Alten.

Und man wird den Gedanken nicht los, dass eines der dunklen Bündel nicht nur ein Haufen zurückgelassener Decken ist. Doch die Toten haben sie schon herausgeschafft, versichert einer der Nationalgardisten, die unten vor dem Aufgang zu Hotel und Superdome Wache schieben.

Nun also ist es so gekommen, wie es die Menschen gewollt hatten, als sie in den ersten Tagen nach der Katastrophe bitter erfahren mussten, wie sehr die Behörden überfordert waren von der Wucht der Katastrophe. Als sie merkten, dass ihr Bürgermeister und seine Verwaltung selbst davongespült wurden und ihre Gouverneurin gar nicht genug Leute hatte, um ihre Stadt zu sichern. Nun also hat das Militär die Macht übernommen in der versunkenen Stadt.

Ständig dröhnen Hubschrauber über New Orleans. Mit ihnen werden die Feuer gelöscht, die jetzt täglich Brandstifter in den verlassenen Häusern legen. Das Wasser für die gigantischen Löschsäcke holen sich die Piloten einfach aus den überfluteten Straßen.

Mit Hubschraubern werden die Evakuierten vom Sammelpunkt auf dem rotgepflasterten Parkplatz des Convention Centers zum Louis-Armstrong-Airport ausgeflogen. Von den Dächern und aus den Dachböden der Häuser im Osten der Stadt, im Ninth Ward etwa, dem Armenviertel, holen sie noch immer Menschen.

Mit den Helikoptern, mit flachen Sumpfbooten oder mit Amphibienpanzern, die noch die sandbraune Tarnfarbe vom Wüstenkrieg im Irak tragen.

Squat-Teams patrouillieren die passierbaren Straßen, acht, neun Kerle auf den Trittbrettern weißer Kleintransporter mit schwarzen Helmen, schwarzen Sonnenbrillen und schwarzen Knarren. Und draußen vor der Stadt bewachen Soldaten die Straßensperren an den Zufahrten.

22.000 Nationalgardisten sind im Einsatz und 7000 reguläre Soldaten der US-Armee. Dazu mit Pumpguns bewaffnete Polizeikräfte des Heimatschutzministeriums. Damit keine Zweifel aufkommen, wer nach den Tagen der Anarchie wieder das Sagen hat in New Orleans.

Bürgermeister Ray Nagin hatte, wie er selbst sagt, einen "verzweifelten SOS-Ruf" am Tag vier nach der Katastrophe an die Nation gerichtet, um diese Hilfe zu bekommen. "Es kotzt mich an", hatte er in einem Radiointerview aus der überspülten Stadt gesagt, "ich brauche mehr Truppen und mehr Hilfe."

Und Louisianas Gouverneurin Kathleen Blanco musste vor laufender Kamera mit den Tränen kämpfen, als ihren Ankündigungen massiver Hilfe keine Taten folgten, weil die Bürokraten aus Washington auch im Angesicht einer Jahrhundertkatastrophe Dienst nach Vorschrift machten.

Nun aber sind die Truppen da, und die meisten Offiziellen haben ihre Fassung wiedergewonnen. Nagin hat den Präsidenten bei dessen zweiter Visite ins Hurrikanland auf dem Flughafen der Stadt empfangen. Und die Gouverneurin sagte am Dienstag in einer Pressekonferenz, dass es "überhaupt keinen Riss" gebe zwischen ihr und dem Präsidenten. Dabei ist der längst schmerzhaft tief.

Sie hatte sich am Wochenende schlicht geweigert, dem Druck aus Washington nachzugeben und die Kommandogewalt über die Nationalgarde abzutreten. Und aus Verzweiflung über den arroganten und überforderten Chef der Fema, der Katastrophenschutzbehörde des Bundes, Michael Brown, hat Blanco kurzerhand dessen Vorgänger als persönlichen Berater eingestellt, der einst von Bill Clinton berufen worden war.

George W. Bush wiederum hatte Blanco - in einem Akt wohlkalkulierter Demütigung - am Montagmorgen erst von Bord der Airforce One informieren lassen, dass er auf dem Weg nach Louisiana sei.

Ein zweites Leben, irgendwo

Doch eine Stufe weiter unten in der Behördenhierarchie liegen die Nerven noch immer blank. Der Gemeindepräsident von Jefferson Parish, Aaron Broussard, hält sich weniger zurück: "Die Bürokratie hat unsere Leute umgebracht", ruft er aufgebracht im Lokalradio. Vielleicht nicht ganz so drastisch hatte es am Wochenende auch die Gouverneurin ausgedrückt, als sie Kompetenzstreitigkeiten mit der Katastrophenschutzbehörde Fema beklagte.

Aber das sind die Kämpfe von gestern. Jetzt müssen die Menschen die nächsten Wochen und Monate überstehen. Edward Curtis zum Beispiel, 33Jahre ist er alt. In einem grünen Krankenpfleger-Overall fährt er durch die Straßen, den hat ihm ein Freund gegeben. Und das Fahrrad hat er irgendwo gefunden.

Er hat gerade sein Haus besichtigt, mit dem Boot. Bis zum Dach ist das Häuschen im Stadtteil Gentilly überschwemmt, nichts zu retten, sagt er. Acht Monate alte Zwillinge hat er, zwei Jungs, die muss er jetzt versorgen: "Ich werde mir irgendwo anders ein neues Leben aufbauen müssen." New Orleans ist für ihn vorbei. So denken viele, heißt es im Stadtradio besorgt.

Draußen vor dem French Quarter, in der Straße Elysian Fields, die hinausgeht in Richtung des unter Wasser stehenden Gentilly, ist ganz anderes zu hören. Vor Haus Nummer 935 fegt Rodney Hoover gerade das Trottoir.

Der 63 Jahre alte Mann ist einer derjenigen, die den Sturm ausgeritten haben, wie sie hier sagen, einer, der allen Warnungen zum Trotz geblieben ist - und Glück gehabt hat. Zwar hat der Sturm das Dach abgedeckt, zwar kam das Wasser bis hinauf in seine Straße gekrochen.

Aber sein gelbes Haus, dessen weißer Balkon gerade in der Abendsonne leuchtet, ist bewohnbar geblieben. Wieso soll er da sein Elysium verlassen? Selbst wenn es von schwarzem, stinkendem Wasser umgeben ist. Selbst wenn sein Nachbar mit der shotgun, mit der Knarre in der Hand, nachts Wache hält. "Wir haben die Stadt nach zwei Bränden wieder aufgebaut. Wir haben das Gelbfieber aus den Sümpfen überlebt. Wir werden auch das überstehen", verkündet Hoover, auf seinen Besen gestützt. "Wir bleiben hier."

© SZ vom 8.9.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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