Naturkatastrophen:Überlebt

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"Irma", Jahrhundertbeben, Monsun: Dieser Tage zeigt sich die Natur in mehreren Regionen der Welt von ihrer brutalsten Seite. Für die Bewohner hat das teils verheerende Folgen. Vier Menschen und ihre Geschichten.

Gestrandet in Florida

Als Skyla Luckey sieben Jahre alt war, hatte sie ein Autofahrer von ihrem Fahrrad geholt, sie lag eine Woche im Koma. Die Ärzte hatten den Eltern gesagt, ihr Gehirn sei Marmelade, sie würde wohl nie ganz geheilt werden. Sie wurde wieder komplett gesund. Doch mit Naturkatastrophen kehren oft alte Ängste zurück.

Letztlich war Skyla Luckey nun, 24 Jahre nach ihrem Unfall, froh, dass sie sich mitten in der Nacht in einer unbekannten Gegend verfahren hatte. "So habe ich wenigstens eine Tankstelle gefunden, die noch Benzin hatte", sagt die 33-Jährige. Ihr Vater ist Trucker, er hatte ihr am Telefon Schleichwege-Tipps gegeben, um rauszukommen aus Florida, so schnell wie möglich. Doch auch die Schleichwege waren überfüllt, Millionen Menschen waren vor einer Woche zur selben Zeit unterwegs gewesen. Hurrikan Irma hatte einen Exodus ausgelöst, der selbst leidgeprüfte Floridianer auf eine harte Probe stellte. Stoßstange an Stoßstange standen sie in den Tagen vor der Ankunft des Wirbelsturms auf den Interstates. Zunächst die Bewohner der Ostküste.

Eigentlich wollte Luckey zu Hause bleiben, immerhin hat sie eine Wohnung im ersten Stock, eine Sturmflut von bis zu vier Metern war vorhergesagt, na ja, sie hätte es schon ein paar Tage ausgehalten, ohne vor die Tür zu gehen. Doch dann rief ihre Mutter an und bat sie unter Tränen, zu ihr zu fahren. In der Nachbarstadt Tampa hatte Bürgermeister Bob Buckhorn gesagt: "Wir haben diesen Tag 90 Jahre lang vermeiden können. Aber ich denke, jetzt ist dieser Tag gekommen."

Selfie auf der Flucht: Skyla Luckeyund ihr Haustier. (Foto: privat)

Freitagmittag vor einer Woche fuhr Skyla Luckey los nach Canton, Mississippi. Von ihrer Wohnung direkt an der flutgefährdeten Tampa-Bucht von St. Petersburg sind das rund 1200 Kilometer. Normalerweise braucht sie dafür keine zehn Stunden, diesmal 20. Die Dokumentarfilmerin hatte ihre Kamera dabei, und ihre zwei Katzen. Im Stau kamen sich die Menschen näher: Die einen führten für Wildfremde den Hund aus, als Gegenleistung rollten andere das fremde Auto weiter.

Als Luckey im Morgengrauen den Staat Alabama erreichte, weinte Luckey vor Erleichterung. Zu dieser Zeit wusste noch niemand, wie viel der Sturm wo zerstören würde. Letztlich traf es St. Petersburg lange nicht so hart wie erwartet, eine Freundin hatte einen Baum auf dem Dach, das war die schlimmste Nachricht. "Ich freue mich darauf, wieder in mein Stammcafé zu gehen und Freunde zu treffen", sagt Luckey. Zurück will sie aber erst an diesem Wochenende: Der Rückreiseverkehr in den vergangenen Tagen war enorm.

Christoph Leischwitz

Irma ist einer der schwersten je registrierten Tropenstürme. In den USA starben mindestens 21 Menschen zu Beginn der Woche, vorher in der Karibik mindestens 41.

Versteckt in Italien

Alle schützen jetzt Filippo Meschini. Es ist, als hätten sich in Livorno alle still darauf geeinigt, kollektiv und rührend, den jungen Mann vor dem drängenden Interesse der Medien zu bewahren. Das Krankenhaus der toskanischen Hafenstadt, in dem er seit der Nacht des großen Unwetters liegt, mag natürlich keine Anrufe in sein Zimmer durchschalten, ausnahmslos. Die Lokalredaktion von Il Tirreno, der Regionalzeitung, behält die Telefonnummern der Familie für sich. Und im Unternehmen der Meschini sagt eine Angestellte, Unglück und Trauer seien noch viel zu frisch. Niemand möge reden, schon gar nicht öffentlich.

Die Geschichte von Filippo Meschini, 30, Koch, Sohn eines berühmten Kaffeeunternehmers und einer ehemaligen Weltmeisterin im Windsurfen, hat Italien tief bewegt. Als ihn die Feuerwehr aus den Wassermassen gerettet und in die Notaufnahme gebracht hatte, wiederholte er immer wieder: "Potevo salvarla." Ich hätte sie retten können. Dabei hat er selber nur knapp überlebt, weggetragen vom reißenden Strom, zwei Kilometer weit. Er war bewusstlos, als die Retter kamen.

Sie, das war Martina Bechini, 34, seine Frau, eines von acht Opfern der Katastrophe von Livorno. Man fand sie einen Tag nach dem Unwetter unter einem Berg von Schlamm, nahe am Meer.

Die beiden hatten im Juli erst geheiratet, waren eben zurückgekehrt von ihrer Hochzeitsreise. Das Paar war zu Hause, in seiner Wohnung am Rand der Stadt, Via Garzelli, als der große Regen über Livorno kam, die Flüsse aufpumpte. Die Wassermassen umspülten ihr Haus, füllten es dramatisch, stiegen immer höher. Sie flohen auf das Dach, klammerten sich fest aneinander, sie entglitt ihm ein erstes Mal, er konnte sie kurz an einer Hand festhalten, Sekunden nur. "Es war dunkel", erzählte Filippo Meschini den Pflegern, "überall war Wasser, plötzlich war sie weg." Er überlebte nur, weil er sich an einem Ast festhalten konnte und an der Oberfläche blieb. Sie hatte keinen Ast.

Die italienischen Zeitungen zeigen nun Bilder des Paars, die sie aus den sozialen Medien holen, auch Martinas Profilbild auf Facebook ist dabei. Sie hatte es im August aktualisiert. Man sieht darauf die beiden in Hochzeitskleidern vor dem Sonnenuntergang, der Schleier wehend im Wind.

Oliver Meiler

Nach heftigen Unwettern und schweren Überschwemmungen in der Toskana am 10. und 11. September starben acht Menschen.

Gefeiert in Mexiko

Nachdem Ángel Sánchez, 57, festgestellt hatte, dass er noch lebte, ging er hinaus in jene Trümmerlandschaft, die einmal seine Heimatstadt Juchitán de Zaragoza war. Die Erde hatte gebebt, wie sie selbst im Erdbebenland Mexiko selten bebt, es war mitten in der Nacht. Sánchez wollte bei der Bergung helfen. Am nächsten Tag kannte ihn das ganze Land - als "den Mann mit der Fahne".

Juchitán im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca ist der Ort, der von dem Jahrhundertbeben am Freitag vergangener Woche am stärksten getroffen wurde. 37 der bislang gezählten 96 Todesopfer stammten von hier. Mindestens 5000 Häuser stürzten ein.

Sánchez hatte dort in der Nacht zu Freitag nach Überlebenden gesucht. Was er fand, waren eine mexikanische Nationalflagge und ein Stock. Ohne sich viel dabei zu denken, wie er später erzählte, stieg er auf den Trümmerberg des ehemaligen Rathauses und brachte ganz oben die Fahne an. Dort wehte sie dann wie zum Trotz. Ein lokaler Fernsehsender filmte die Szene eher zufällig und stellte sie in Netz. Seither gilt Sánchez als Symbol der Hoffnung an einem Ort der Hoffnungslosigkeit. Viele Erdbebenopfer in Oaxaca warteten zu dem Zeitpunkt auf staatliche Hilfsgüter, auf Lebensmittel, Wasser, Kleider, Notunterkünfte. Sánchez widmet seine Aktion deshalb im Nachhinein der mexikanischen Politik: "Das ist für die Leute, die alle sechs Jahre unter der Fahne schwören, dass sie dem Volk dienen, aber diese Fahne mit ihren Taten verraten und beflecken."

Ángel Sánchez ist ein einfacher Mann, der als Schmied umgerechnet knapp 100 Euro im Monat verdient. Sein Haus und seine Familie blieben unversehrt. Die Reaktionen auf das Beben haben sein Leben stärker verändert als das Beben selbst. Weil er eine Flagge aus dem Staub zog, hat man ihn in allen großen Zeitungen und auf allen Kanälen Mexikos als Nationalheld gefeiert. Aus dem "Mann mit der Fahne" wurde dabei, in Anlehnung an seinen Vornamen "El ángel de la bandera", der Fahnenengel.

Boris Herrmann

In der Nacht zum 8. September erschütterte ein Erdbeben der Stärke 8,2 Mexiko. Es war das stärkste seit 1932, mindestens 96 Menschen starben.

Ruiniert in Indien

Am Ende halfen Pinky Devanthan auch die Sandsäcke nichts. (Foto: privat)

Pinky Devanathan kennt das Gefühl. Wenn der Regen nicht mehr aufzuhören scheint, wächst bei ihr die Sorge: Was wird aus meinem Haus, was aus meinem Geschäft? Jahr für Jahr ergießt sich der Monsun über ihre Heimatstadt. Aber in diesem Jahr waren die Regenfälle im indischen Bangalore extrem.

Indien braucht den Monsun. Die Bauern sehnen den Regen Jahr für Jahr herbei, um eine reiche Ernte einfahren zu können. Aber dieses Jahr war der Niederschlag so heftig, dass sie unter massiven Überschwemmungen zu leiden hatten, nicht nur in Indien, auch Teile von Nepal und Bangladesch standen unter Wasser. Mehr als 2100 Menschen sind in Südasien an den Folgen der Unwetter gestorben. Allein in den drei Ländern waren 40 Millionen Menschen von der Flut betroffen. Zehntausende Häuser hat die Wucht des Wassers weggerissen.

Pinky Devanathan, 47, betreibt in Bangalore einen Schönheitssalon. Sie verharrte in der vergangenen Woche in ihrem Laden, so lange es möglich war. Doch als das Wasser auf der Straße vor ihrem Salon minütlich stieg und sich dem Geschäft bedrohlich näherte, beschloss sie, noch ein paar weitere Sandsäcke vor den Eingang zu hieven und sich dann in Sicherheit zu bringen. Sie fuhr nach Hause, mit dem unguten Gefühl, dass alles, was sie in den vergangenen Jahren mühsam aufgebaut hatte, verschwinden könnte.

In ihrem Haus stand der Keller schon unter Wasser, erst nach zwei Tagen kam die Feuerwehr, um es herauszupumpen. Als das Wasser zurückging, fuhr Pinky Devanathan zu ihrem Salon. Überall Schlamm, aber sie sagt heute: "Ich hatte noch Glück, andere Geschäfte um mich herum hat es viel schlimmer erwischt." Sie musste den Salon Tage geschlossen lassen, keine Kundinnen bedeutet auch: keine Einnahmen.

Pinky Devanathan ärgert sicht über die Regierung, die "in keiner Weise hilfreich" sei, wie sie sagt. Die Verwaltung erweise sich während des Monsuns regelmäßig als überfordert. Die Kanalisation werde nicht verbessert, die vielen unkoordinierten Neubauten führten dazu, dass das Wasser nicht genug Möglichkeiten habe, zu versickern.

Und manchmal könnten Versäumnisse der Behörden in Indien sogar tödliche Folgen haben: "Wir haben viele offen stehende Gullys, es gab Todesfälle, weil Leute da reingerutscht sind", sagt Pinky Devanathan. Zwar lasse sich gut vorhersagen, wann das Unwetter kommt und wann es kritisch für die Bewohner werde, aber für den Katastrophenfall werde grundsätzlich nicht vorgeplant.

Pinky Devanathan sagt: "Das ist Jahr für Jahr das Gleiche."

Tobias Matern

Ende August kamen mehr als 2100 Menschen bei den schweren Überschwemmungen in Indien, Nepal, Bangladesch und Pakistan ums Leben.

© SZ vom 16.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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