Mord an Tim:Ein Kindertod und sechs Tage voller Lügen

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Der zweijährige Tim wurde offenbar vom Freund der Mutter getötet, der ein Teilgeständnis abgelegt hat. Wie Tims kurzes Leben aussah, erscheint so unverständlich wie sein Ende.

Ralf Wiegand

Zurück bleibt ein Mosaik aus Traurigkeit, wie immer, wenn Kinder auf diese Art sterben, so erbärmlich einsam und so gnadenlos öffentlich. Das Grab der kleinen Jessica, die in Hamburg verhungert ist, verwandelten trauernde Menschen in ein Meer aus Spielzeug, das sie nie besitzen durfte, als sie noch lebte. Für Levke, missbraucht und getötet, schrieben wildfremde Menschen Botschaften und legten sie vor ihrem Elternhaus nieder.

Passanten stellen vor dem Haus, in dem Tims Leiche gefunden wurde, Kerzen, Blumen und Briefe auf (Foto: Foto: ddp)

Und jetzt hier, der Gehweg in der Elmshorner Gärtnerstraße: ein rosa Haus, kein Vorgarten, tiefe Fenster. Plüschtiere sitzen auf dem Trottoir, ein Kreuz aus Teelichtern erlischt bereits. Eine Mutter kommt mit ihrer Tochter vorbei, sie zünden ein Grablicht an. "Vor drei Wochen hast du noch mit ihm gespielt", sagt die Frau, nimmt das Mädchen fester an die Hand und eilt unter Tränen davon. Regentropfen rinnen über ein gerahmtes Kinderfoto. Tim lächelt darauf nicht, er schaut aus großen, fragenden Augen in die Kamera.

Und das Motiv?

Mit diesem Foto ist sechs Tage lang nach dem zweieinhalb Jahre alten Tim H. gesucht worden, alle Zeitungen haben es gedruckt. Jetzt ist es eine Erinnerung, denn Tim ist tot. Im Garten des Hauses in der Gärtnerstraße haben Polizisten am Mittwoch die Leiche des Jungen gefunden, eingepackt in eine Sporttasche, sehr gut versteckt.

Die Staatsanwaltschaft Itzehoe hat am Donnerstag den Tod des Jungen bestätigt. Dringend verdächtig, ihn getötet zu haben, ist Oliver H., der Freund von Tims Mutter. Er hat ein Teilgeständnis abgelegt. Offen ist, wie das Kind starb. Die Hamburger Gerichtsmediziner, die die Leiche obduzierten, stellten schwere Gewalteinwirkung gegen den Kopf fest. Der Verdächtige gibt bisher ein Geschehen an, das zu diesem Ergebnis nicht passt. Und das Motiv? "Dazu sagen wir im Moment nichts", sagte Dieter Böckel, Leiter der Kripo Itzehoe.

Klar ist bisher, dass die Geschichte vom mysteriösen Verschwinden Tims aus der Wohnung seiner Mutter gelogen war. Monya H., 21, hatte ihren Sohn schon öfter einfach zu ihrem Freund Oliver H., 38, gegeben. Er wohnte auf derselben Etage in der Elmshorner Kirchenstraße, Tür an Tür, Wand an Wand. Am Dienstag vergangener Woche hatte H. den Jungen wieder zu sich genommen.

Lügen aus Angst um das Sorgerecht

Am Donnerstagabend, Monya H. habe schon geschlafen, habe Oliver H. sie geweckt und gesagt, er habe Tim zurückgebracht und schlafen gelegt. Sie solle später noch einmal nach ihm sehen. Als sie gegen 23 Uhr nachschaute, war Tims Bett leer. Eine halbe Stunde später meldete sie ihn als vermisst.

Weil sie mit Tims leiblichem Vater schon einmal über das Sorgerecht gestritten hatte und fürchtete, es könne ihr negativ ausgelegt werden, dass sie das Kind manchmal zu ihrem Freund gab, belog sie die Polizei. Sie erzählte, sie selbst habe Tim auf sein Bettchen gelegt und sei dann eingeschlafen. Tim müsse weggelaufen sein, oder jemand müsse in die Wohnung eingedrungen sein und ihn genommen haben.

Polizei und Staatsanwaltschaft halten alle Angaben der Mutter für plausibel. Dass sie aus Angst um das Sorgerecht log; dass sie das Kind 48 Stunden lang in der Wohnung nebenan in Oliver H.s Obhut wähnte, ohne nach ihm zu sehen; dass sie behauptete, fast die ganze Zeit in der Wohnung gewesen zu sein; dass sie nicht sofort nach dem Jungen schaute, als Oliver H. ihn zurückgebracht haben will, sondern erst Stunden später. Und dass sie nichts hörte, als der Junge in der Wohnung nebenan starb.

All das sei plausibel, sagte Oberstaatsanwalt Wolfgang Zepter, mit einer Einschränkung: "Sie dürfen nicht die optimale Mutterrolle zu Grunde legen. Nicht alle Kinder wachsen auf der Sonnenseite des Lebens auf."

Die Umstände - unklar

Wie schlimm war Tims kurze Kindheit? Aktenkundig war die Mutter nicht, weder beim Sozial- noch beim Jugendamt. Es gibt keine Hinweise auf Alkohol oder Drogen. Tims Vater, 26 Jahre alt, nahm sein geregeltes Besuchsrecht wahr. Tim und der neue Freund der Mutter, Oliver H., hätten ein "freundschaftliches Verhältnis" gehabt, sagte Polizist Böckel. Die Großeltern wohnen im Haus gegenüber. Die Straße, in der Tim lebte, ist sauber und recht ruhig, obwohl die Innenstadt von Elmshorn nur einen Steinwurf entfernt ist. Wenn man vor dem Hauseingang steht, hört man das Lachen aus dem nahen Kindergarten.

Jetzt klebt an der Türe ein rotes Schild, "Tatort beschlagnahmt. Betreten verboten". Wahrscheinlich hat Oliver H., der seit einem halben Jahr mit Monya H. zusammen ist, den Jungen schon am Mittwoch letzter Woche in seiner Wohnung getötet, die Umstände sind unklar. Die Staatsanwaltschaft sieht bis jetzt keine Mordmerkmale und geht von Totschlag aus.

Einen Tag hätte H. das tote Kind demnach in seiner Wohnung behalten, am Donnerstag will der selbstständige Bautischler es mit zum Haus seines Vermieters genommen haben, wo er mit Renovierungsarbeiten beschäftigt war. Er versteckte Tim, belog seine Freundin und sechs Tage lang die Polizei. Sie musste sich alles selbst zusammenreimen, H. gab keinen Hinweis und gestand seine Beteiligung erst, als die Ermittler die Leiche gefunden hatten.

Das "Gesamtbild der Ermittlungen", so Böckel, habe sie schließlich an den Fundort geführt. Bis dahin glaubten Polizei und Öffentlichkeit an einen der spektakulärsten Vermisstenfälle der Kriminalgeschichte: Ein zweijähriger Junge verschwindet aus einer belebten Wohnung, ohne dass irgendein Mensch etwas bemerkt.

Die Wahrheit ist gewöhnlicher; leichter zu ertragen ist sie nicht.

© SZ vom 18.11.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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