Mitten in Karlsruhe:Messerstich in den Rücken - einfach so

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Sie sei "außer sich gewesen", hat eine 16-Jährige angegeben, nachdem das Mädchen eine 17-Jährige in Karlsruhe auf offener Straße niedergestochen hatte. Das Opfer starb, die Täterin wurde jetzt verurteilt.

Bernd Dörries

Nicole wollte gerade Zigaretten holen, als der erste Stich kam. Mit einem Klappmesser, an einer Straßenbahnhaltestelle mitten in Karlsruhe. Fünf Stiche trafen den Oberkörper, einer in den Rücken. Zwei Tage später war die 17-Jährige tot, sie starb in jenem Krankenhaus, in dem sie gerade ein Soziales Jahr machte.

Die Polizei sprach damals von einer neuen Dimension der Gewalt. Die Freunde zogen sich T-Shirts mit einem Bild von Nicole an und liefen durch die Innenstadt. Dort, wo sie starb, legten sie Blumen nieder und stellten Kerzen auf. Auf einem kleinen Schild stand: "Warum?"

Das Landgericht Karlsruhe versuchte in den vergangenen zwei Tagen diese Frage zu klären. Es gibt ein Urteil, aber keine richtige Antwort. Der Vorsitzende Richter sagte am Donnerstag, man habe letztlich keine Erklärung.

In der Nacht zum 1. Juni dieses Jahres war Nicole in der Straßenbahn unterwegs und traf dort auf Nadja, mit der sie früher befreundet war. Die 16-jährige Nadja hatte ihre Clique dabei. Laute Mädchen, die Militärhosen tragen, rauchen und trinken. Die sich in ihrer Clique so benehmen, wie die Jungs es auch tun. Oder noch schlimmer. Nadja wirft Nicole vor, vor einigen Wochen eine Freundin geschlagen zu haben, es wird laut.

Als sie die Straßenbahn verlassen, bekommt Nicole von einer aus der Clique eine Ohrfeige, dann scheint der Streit beigelegt. Die Mädchen wollen rauchen, Nicole will die Zigaretten holen gehen. Nadja nimmt ihr Klappmesser und sticht zu. Eine Wunde ist tiefer als die Länge der Klinge.

Heimtückischer Mord

Von Mittwoch an musste sich Nadja vor dem Landgericht Karlsruhe verantworten, das Verfahren wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Die Staatsanwaltschaft sah das Mordmerkmal der Heimtücke für gegeben an. Die Angeklagte ist geständig. In den ersten Vernehmungen hatte Nadja der Polizei zufolge gesagt, sie sei an jenem Tag einfach "außer sich gewesen". Umbringen habe sie Nicole nicht wollen.

Nadja wurde in Kasachstan geboren und kam bald darauf nach Deutschland. Der Vater schlägt sie immer wieder, er kommt später wegen Drogenhandels ins Gefängnis und macht sich danach davon. Nadja fällt schon im Kindergarten durch aggressives Verhalten auf, in der Schule sind die Lehrer überfordert, werden von ihr mit Stühlen beworfen.

Das Jugendamt wird eingeschaltet, kommt aber auch nicht weiter. Nadja ist offenbar nicht so stark, wie sie nach außen hin wirkt. Wirken will. Sie ist lange Bettnässerin und hat später mit Übergewicht zu kämpfen. Ihr Verteidiger Markus Bessler sagt, sie zeige Anfänge einer Persönlichkeitsstörung.

In ihrer Clique ist Nadja die Anführerin, man trinkt, kifft und schlägt sich auch mal. Vor dem Ende ihrer Hauptschulzeit scheint sich das Mädchen zu beruhigen, sie lernt regelmäßig und schafft einen guten Abschluss. Vielleicht entsteht in dieser Zeit so etwas wie ein vages Ziel im Leben. Sie möchte den Realschulabschluss machen.

Schwänzen, Schulverweis, Diebstähle

Als dort kein Platz ist und sie nur auf die Berufsschule kommt, wird die Clique wieder wichtiger als die Zukunft. Sie trinkt noch mehr, und wenn sie trinkt, wird sie aggressiv. "Nachspüler" werden die Schnäpse in der Clique genannt. Die Schule schwänzt sie so oft, bis sie fliegt. Die Kontakte mit der Polizei häufen sich: Diebstahl, Körperverletzung. Sie geht auf Polizisten los, die sie festnehmen wollen.

Sie gerät offenbar außer Kontrolle. Am 2. Juni sticht sie auf Nicole ein, die einmal ihre Freundin war. Sie kommt in Untersuchungshaft und scheint ihre Tat mittlerweile zu bereuen. Sie könne selbst keine Erklärung dafür finden, sagt ihr Verteidiger. Das Gericht verurteilte Nadja wegen Totschlags zu sieben Jahren Jugendhaft. Im Gefängnis soll ihr eine Therapie angeboten werden.

© SZ vom 8.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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