Kriminalität:Wo ist Johnny?

Lesezeit: 3 min

Entwischte mehrmals aus dem Gefängnis: Giuseppe Mastini. (Foto: Archiv)

Mit elf beging er seinen ersten Raubüberfall, später ermordete er einen Polizisten - und so ging das weiter mit "Johnny, dem Zigeuner", ein Leben lang. Nun ist Giuseppe Mastini wieder einmal aus der Haft entkommen.

Von Julius Müller-Meiningen, Rom

Die bislang letzten Bilder von Giuseppe Mastini zeigen ihn im hellblauen T-Shirt, karierten Bermudas und weißen Turnschuhen. Die Aufnahmen stammen von einer Überwachungskamera im Bahnhof von Genua. Das war am vergangenen Freitag, gegen zwölf Uhr mittags. Dann verschwand "Johnny, der Zigeuner".

Giuseppe Mastini, so der bürgerliche Name des Schwerverbrechers, ist - wenn man so will - einst zur Berühmtheit in Italien geworden, zuletzt aber ist er beinahe in Vergessenheit geraten. In den 1970er- und 1980er-Jahren hielt er Rom und Italien mit seinen brutalen Raubzügen und spektakulären Gefängnisausbrüchen in Atem. Es war die Zeit, als Verbrecherorganisationen wie die Magliana-Bande oder Rechtsterroristen um Massimo Carminati die Machenschaften der römischen Unterwelt lenkten. Was Mastini, den Analphabeten und Sohn einer Schaustellerfamilie mit Sinti-Abstammung, mit den Bossen verband, war vor allem seine ungezügelte Brutalität. Das Zeug zum Boss hatte er nicht. Idealisiert wurde er dennoch, Regisseure und Liedermacher ließen sich von dem Verbrecher inspirieren. "Johnny, der Zigeuner - die ganze Wahrheit", heißt ein Kinofilm über ihn. Die italienische Rockband Gang widmete ihm einen Song, in dem sein unbeugsamer Freiheitsdrang besungen wird, was in Anbetracht der aktuellen Ereignisse beinahe zynisch erscheint.

Am vergangenen Freitag hielt der 57 Jahre alte Mastini seine Gefangenschaft ganz offensichtlich nicht mehr aus. 1989 war er wegen mehrfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Seit November 2016 hatten ihm Gefängnisleitung und Haftrichter gestattet, Hausmeistertätigkeiten in einer Polizeischule zu übernehmen. Von der Haftanstalt in Fossano südlich von Turin nahm Mastini dafür täglich den Zug in Richtung Savona am ligurischen Meer, fuhr morgens hin und abends wieder zurück. Außer am Freitag. Da soll er stattdessen per Taxi nach Genua gefahren sein. Es folgten die Aufnahmen vom Bahnhof. Seither ist Mastini verschwunden.

Vollgepumpt mit Kokain und Whiskey taugte er vor allem für die Fantasien der Klatschpresse

Seine Verbrechen wurden in den italienischen Medien nun wieder detailliert aufgerollt, zusammen mit einer ganzen Lebensgeschichte: Wie er bald nach dem Umzug der in einem Wohnwagen lebenden Familie um 1970 nach Rom auf die schiefe Bahn geriet, wie es danach weiterging. Als strafunmündiger Elfjähriger beging er bereits einen Raubüberfall und wurde in eine Schießerei verwickelt. Als 15-Jähriger überfiel und erschoss Mastini 1975 zusammen mit einem Komplizen einen Trambahnfahrer in Rom. Dreimal hintereinander entkam "Johnny, der Zigeuner", wie er genannt wurde, aus der Haft. Erst nach einer spektakulären Verfolgungsjagd mit Schießerei auf dem römischen Autobahnring konnte die Polizei ihn stellen.

Der Mörder wurde zum finsteren Mythos. Als ihm 1987 erstmals Freigang gewährt wurde, verursachte Mastini erneut Elend und Verwüstung. Bei einem Raubüberfall in einem römischen Nobelvorort erschoss der damals 27-Jährige einen Villenbesitzer und verletzte dessen Ehefrau schwer. Auf der Flucht kidnappte er eine 20-Jährige, mit der ihm die Regenbogenpresse anschließend eine Affäre andichtete. Als ihn die Polizei Wochen später stellte, eröffnete der Pistolero brutal das Feuer. Einer der Beamten war sofort tot, ein zweiter überlebte schwer verletzt. Und doch florierten die Geschichten um ihn weiter.

Bei seiner Verhaftung 1987 prügelten sich Carabinieri und italienische Polizei, als gelte es, eine Jagdtrophäe zu sichern. Auch der mehrfache Mörder gab ein elendes Bild ab. Vollgepumpt mit Kokain und Whiskey taugte Mastini vor allem für die Fantasien der Klatschpresse. Seine Freundin und Komplizin starb später an Magersucht. Auch die römische Version von Bonnie und Clyde endete also im Drama.

Dass er zudem mit dem Mord am homosexuellen Dichter Pier Paolo Pasolini im November 1975 an einem tristen Flecken von Ostia in Verbindung gebracht wurde, fütterte das Märchen vom Zigeuner-Desperado weiter. Der verwahrloste Mastini war damals gerade mal 15 Jahre alt gewesen. Eine Schuheinlage, die die Ermittler im Alfa Romeo Pasolinis fanden, soll dem Schausteller-Sohn gehört haben.

Mastini bestreitet bis heute alle Taten, alleine den Polizistenmord von 1987 gestand er. 1989 verurteilte ihn ein Gericht zu lebenslanger Haft.

Lange war es nun ruhig um den Mann. Der Fall Mastini wirft die uralte Frage vom Verhältnis zwischen Strafe und Gerechtigkeit auf. Hat ein einst brutaler, verurteilter Mörder nach einer dramatischen kriminellen Laufbahn und langen Jahren der Haft eine Chance auf Resozialisierung verdient? Oder muss er wegen seiner Gefährlichkeit und Unverbesserlichkeit ewig büßen?

Die italienische Justiz zumindest erkannte nach 18 Jahren Haft offenbar einen Schimmer der Hoffnung in der finsteren Vita Mastinis und gestattete ihm die Möglichkeit, einen anderen Weg einzuschlagen - die Resozialisierung ist auch in Italien ein wichtiges Grundprinzip im Umgang mit Straffälligen. Einem Sozialarbeiter, der seit Jahren mit dem Gefangenen arbeitete, soll Mastini anvertraut haben, depressiv zu sein. "Er wollte nur noch verschwinden", sagte der Sozialarbeiter. Bislang ist dieser Wunsch in Erfüllung gegangen, wenn auch anders, als sich die italienische Justiz das vorgestellt hatte.

© SZ vom 05.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: