Kindersoldaten in Afrika:Wie Wassertrinken

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Eine Begegnung mit Ishmael Beah aus Sierra Leone: Als erster ehemaliger Kindersoldat hat er seine Erfahrungen niedergeschrieben.

Michael Bitala

Würde man eine Romanfigur wie Ishmael Beah erfinden, wäre man ein Narr. Vom afrikanischen Dorfjungen zum US-Bestsellerautor. Vom Massenmörder zum Medienstar. So einen Menschen kann es nicht geben, nicht einmal im Märchen.

Nun aber sitzt er da, in Hamburg, in einem Hotelzimmer. Er ist ein kleiner, schmächtiger Kerl, mit leuchtenden runden Augen, mit tiefschwarzer Haut, mit strahlend weißen Zähnen, mit einem entwaffnenden Lachen und mit lustig abstehenden Haaren. Rap-Star wollte er werden, sagt er, damals, als er ein Kind war, im Dorf, in Sierra Leone, mitten im westafrikanischen Busch.

Man kann sich diesen Traum gut vorstellen. Ishmael Beah, der süße Sänger, der alle Mädchen verzaubert. Eine einzige Musikcassette besaß er damals, mit Stücken von Naughty by Nature, LL Cool J und Run DMC, und er konnte tanzen und singen - und Geschichten erzählen konnte er sowieso.

Ishmael Beah wollte Künstler werden, aber er wurde Kindersoldat

Er ist ein Mende. Sein Volk, sagt Beah, sei berühmt für seine mündliche Überlieferung. "Oral Tradition". Am Lagerfeuer, in der Schule, bei der Oma, bei der Mutter, bei Freunden, auf dass ja kein Wort, kein Wissen verloren geht. Und dann noch diese Gabe: "Wenn jemand im Dorf gestorben war, merkte ich, wie sehr sich die Natur um mich herum veränderte."

Ishmael Beah wollte Künstler werden, aber er wurde Kindersoldat. Eines Tages, er war zwölf Jahre alt, bebte die Natur, nicht einer starb oder zwei, sondern Dutzende wurden abgeschlachtet, ja ganze Dorfgemeinschaften. Der Krieg, der Ende der Achtziger im Nachbarland Liberia begann, hatte seine Heimat erreicht, gerade als er auf dem Weg zu einem Rap-Talentwettbewerb war.

Was danach geschah, kann in wenigen Sätzen nicht erzählt werden. Beah brauchte dafür mehr als 500 Seiten. Das Schreiben war seine Tortur, seine Therapie, vielleicht auch seine Befreiung. Es sind Seiten voller Blut, voller Horror, voller Verzweiflung, voller Drogen, voller Menschenverachtung - und voller Lust am Töten.

In der endgültigen Fassung, die gerade in der deutschen Übersetzung als "Rückkehr ins Leben" im Campus Verlag erschienen ist, wurden es gerade noch 250 Seiten, aber auch die kurze Version hat vom Schrecken seines früheren Daseins nichts verloren. Gab es doch noch nie ein Buch, das das Leben eines afrikanischen Kindersoldaten aus dessen Sicht erzählt.

Ohne Pathos, ohne Übertreibung, ohne altkluge Reflexion, ohne Schuldbekenntnis, nur geschildert, in einer einfachen und deshalb umso fesselnderen Sprache.

Ishmael Beah floh vor dem Krieg, aber er konnte ihm nicht entkommen. Eines Tages wurde er als Soldat für die Regierungsarmee rekrutiert, und diese schlug Zivilisten zwar nicht die Arme oder Beine ab, wie es die sogenannten Rebellen in Sierra Leone taten, sie schnitt Schwangeren auch nicht die Föten aus dem Bauch, aber sie war ähnlich grausam wie die aufständischen Mörderbanden:

Beah, die "grüne Schlange", wie sein Kampfname lautete, weil er sich so gut anschleichen konnte, bekam Drogen und Kriegsfilme, Parolen und Drohungen, so dass er nur vor seinem ersten Mord heulen musste. Danach aber wurde es normal, Menschen zu töten, "wie Wassertrinken", sagt er, und oftmals verspürte er auch eine zutiefst sadistische Lust.

Er zwang seine Opfer zum Beispiel, ihre eigenen Gräber zu schaufeln. Als diese damit fertig waren, stach er ihnen mit dem Bajonett in die Beine und fesselte sie. "Dann rollten wir jeden Mann in sein Loch und bedeckten ihn mit nassem Matsch.

Sie hatten Angst und versuchten aufzustehen und aus dem Loch zu kommen, während wir zügig Erde auf sie schütteten, doch als sie die Mündungen unserer Gewehre auf sich gerichtet sahen, legten sie sich hin und schauten uns mit ausdruckslosen, traurigen Augen an.

In den USA und Europa ist er längst vom Publikum freigesprochen

Selbst unter der Erde kämpften sie noch mit aller Macht. Ich hörte sie von unten stöhnen und nach Luft ringen. Allmählich gaben sie auf, und wir gingen weg." Kein Kindersoldat aus Afrika hat bislang sein Leben so aufgeschrieben. Schon allein, weil die meisten entweder sterben, verwundet werden, nicht lesen oder schreiben können oder so traumatisiert sind, dass sie über Jahre hinweg keine zusammenhängenden Sätze mehr von sich geben.

Beah aber schaffte mehrere Dinge, die in Afrika als nahezu unmöglich gelten. Er überlebte den Krieg, er floh aus Sierra Leone, und er gelangte schließlich 1998 mit Hilfe einer weißen Amerikanerin, die ihn später adoptierte, in die USA. Dort schrieb er während seines Politik-Studiums die vielen traumatischen Erinnerungen und Albträume auf und stürmte damit Platz 1 der New York Times-Bestseller-Liste.

Natürlich klingt Beahs Geschichte ein bisschen zu phantastisch. Zumal in Deutschland, wo mehrere Autoren mit schauerlichen, aber letztlich erfundenen Geschichten aus Afrika aufgeflogen sind. Doch Beahs Biographie scheint zu stimmen. Es bleiben trotzdem Fragen, die weniger mit Authentizität zu tun haben als mit Opfern und Tätern, Schuld und Sühne.

In den USA und Europa ist der ehemalige Kindersoldat vom Publikum längst freigesprochen worden, egal, wieviele Menschen er getötet hat, egal wie sadistisch er seinen Opfern das Leben aus dem Leib geprügelt hat. Er war ein Kind, er war unter Zwang und unter Drogen.

Diese Sicht aber ist zu einfach. Das weiß auch Beah. In Europa und Amerika kann man Tätern leicht etwas verzeihen, was man selbst nicht erlitten hat. In Afrika aber ist das anders, dort kennt man die zerstörende Kraft dieser Kinderkillerbanden, dort sieht man sie als minderjährige Mörder.

Im vergangenen Jahr war Beah zum ersten Mal wieder in Sierra Leone, und er spürte Hass und Bitterkeit. Deshalb erwarte er auch keinen schnellen Freibrief. "Ich fühle mich immer noch schuldig", sagt er, "und ich fühle immer noch Verantwortung für all das, was ich getan habe."

Und deshalb zögert er auch, Kindersoldaten generell die Schuld abzusprechen. "Was machen sie denn mit all denen", fragt Beah, "die als Kind entführt wurden, im Krieg aufwuchsen und als erwachsene Kämpfer dann Kinder als Soldaten entführt haben?"

© SZ vom 8.6.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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