Jugendlicher Intensivtäter - ein Portrait:"Wir sind nicht von Anfang an böse"

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Drogen, Raubüberfall, Gewalt, Jugendarrest: All das hat Rafael Kucab hinter sich. Der ehemalige Intensivtäter erzählt, wie er zurück in die Gesellschaft gefunden hat.

Carolin Gasteiger

Der ehemalige jugendliche Intensivtäter Rafael Kucab, 23, saß wegen diverser Delikte, wie Raubüberfall, knapp zwei Monate in Jugendarrest, klaute, dealte und wurde später obdachlos. Über eine Hilfseinrichtung, die Work and Box Company in Taufkirchen bei München, hat er seinen Weg zurück in die Gesellschaft gefunden. Er ist einer der Protagonisten in Gerardo Milszteins Kinofilm "Friedensschlag", der jugendliche Strafttäter der Work and Box Company begleitet hat. Auf sueddeutsche.de erzählt Rafael seine Geschichte auf dem Weg in die Gewaltlosigkeit.

"Opfer der eigenen Langeweile": Bei Rafael kamen zu den Drogen Klauen und Raubüberfälle. (Foto: Foto: AP)

Rafael Kucab ist kein bisschen verlegen, wenn er von seiner Vergangenheit erzählt. Einer Vergangenheit als jugendlicher Intensivtäter. Er sitzt in einem Café. Im beigen Kaschmirpullover, eleganten Herrenschuhen, die schwarzen Haare in Form gegelt, ist es nur schwer vorstellbar, dass der 23-Jährige noch vor ein paar Jahren auf der Straße gelebt hat.

Angefangen hat seine kriminelle "Karriere", als er 15 Jahre alt war und damals noch in Berlin lebte - und das erste Mal kiffte. "Damals war ich ein Opfer meiner eigenen Langeweile. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, bin jeden Tag mit meinen Jungs abgehangen", sagt der 23-Jährige nüchtern und wirkt sehr erwachsen, wenn er darüber spricht.

Zu den Drogen kamen irgendwann das Klauen oder "Abziehen", wie er es nennt, und die ersten Überfälle. Das alles war alltäglich für ihn, fast schon normal. "Als Krimineller habe ich mich damals nicht gesehen, ich war ja noch ein Kind. Und die Dummheit anderer auszunutzen, die ihr Handy oder Portemonnaie liegen lassen, das empfand ich nicht als schlimm."

In der aktuellen Diskussion sind die Vorfälle in der Münchner U-Bahn zum Synonym für gewalttätige Jugendliche geworden. Auch für die Jugendlichen selbst. So heißt es auf Berlins Straßen angeblich nicht mehr "Schnauze, sonst hau ich dir eine rein" sondern "Schnauze, sonst München." Dabei gehören die beiden Gewalttäter aus der U-Bahn offenbar noch nicht zu den Schlimmsten. "Ich kenne Menschen, die sind weitaus gewalttätiger, haben aber Respekt davor, einen älteren Menschen zu attackieren", sagt Kucab. Er sieht sich vorsichtig nach den anderen Gästen um.

Etwas leiser erzählt er, dass er selbst auch oft in Schlägereien verwickelt war und sich gewehrt hat, wenn ihm gegenüber jemand handgreiflich wurde. Sein Lebenslauf hört sich an wie das typische Straftäter-Klischee, das derzeit die öffentliche Diskussion beherrscht: Drogen, Raub, Gewalt. "Das war wie eine Spirale, nur das wusste ich damals noch nicht", sagt Rafael Kucab und seine Stimme klingt plötzlich wieder fester.

Da er ohne Führerschein ein geklautes Motorrad fuhr, kommt eines Tages per Post eine richterliche Vorladung. Wegen eines Raubüberfalls muss er in Jugendarrest. "Das Eingesperrtsein war zwar nicht schön, aber so richtig abgeschreckt hat mich das auch nicht. Die Beamten waren ja nicht mal streng", so Kucab. Seinen Berliner Akzent hat er in Bayern nicht verloren. Auch ein gelegentliches "Jo, ne" kann er sich nicht verkneifen.

Trotz der "schiefen Bahn", auf der er immer noch war, macht der gebürtige Pole seinen Realschulabschluss und sucht nach einem Ausbildungsplatz. In der Schweiz, in Österreich, in Italien - "Ich wäre überall hingegangen, um eine Ausbildung anzufangen. Aber niemand wollte mich".

"Mein Antrieb waren Gott, die Liebe meiner Mutter und positives Denken": Rafael Kucab über den Weg aus der Gewalttätigkeit. (Foto: Foto: privat)

Bis auf einen Gastronomiebetrieb im oberbayerischen Holzkirchen, wo Kucab eine Ausbildung beginnt. Das ist jetzt sechs Jahre her. Weil er rebellisch und modisch sein wollte, rasiert sich Kucab nach einem Jahr Ausbildung eine Glatze. Und wird entlassen. "Von einem Tag auf den anderen hatte ich keine Arbeit, keine Wohnung, kein Geld. Und keine Perspektive. Aber als Verlierer zurück nach Berlin? Nee."

Acht Monate lang lebt Rafael auf der Straße, übernachtet im Auto, mal bei Bekannten auf der Couch. Und dealt, um zu überleben. Obwohl er durch seine "Geschäfte" sehr gut verdient, hat er immer im Hinterkopf, erst wieder nach Berlin zu fahren, wenn er eine Ausbildung abgeschlossen hat. Obwohl er immer noch kriminell ist.

Wenn er wirklich so gut davon leben kann, könnte er doch auch auf der illegalen Schiene bleiben? "Man hat ja auch Ideale - so Ausbildung, Job, Familie, wie man das halt so zu Hause lernt. Mein Antrieb waren Gott, die Liebe meiner Mutter und positives Denken", bekräftigt sich Kucab selbst.

Durch "Freunde" kommt der damals 18-Jährige zur Work and Box Company nach Taufkirchen, wo jugendliche Intensivtäter durch Boxtraining und kleine Jobs innerhalb eines Jahres auf den Arbeitsmarkt vorbereitet werden. 80 Prozent der Jugendlichen finden über die Einrichtung wieder zurück auf den Arbeitsmarkt. Kucab hätte das damals wohl kaum beeindruckt.

"Als ich da hingegangen bin, war mir alles egal. Ich dachte mir, ich bin ein Bandit, ich brauche niemand. Schicke Klamotten, teures Essen, das alles konnte ich mir ja leisten. Ich war vollkommen autark. Und ich war mir sicher, dass ich eh gleich wieder gehen werde, spätestens, wenn der nächste Kunde anruft." Doch die Betreuer beschäftigen sich mit ihm, stellen ihm interessiert Fragen. "Ob ich einen Vater habe, wo ich aufgewachsen bin und so. Da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass sich jemand wirklich mit mir auseinandersetzt." Rafael Kucab bleibt.

Diese Auseinandersetzung sei bei der Rehabilitation jugendlicher Straftäter viel wichtiger als härtere Strafen, sagt Kucab und ereifert sich über die aktuelle Diskussion. Die gehe vollkommen an den Betroffenen vorbei: "Da diskutieren überwiegend Leute, die mit so einem wie mir noch nie an einem Tisch saßen. Die fahren nicht U-Bahn, sondern Limousine und haben jeden Bezug zur Realität verloren", meint er.

Für Jugendliche wie ihn, die auf die schiefe Bahn geraten sind und sich illegal auf der Straße durchschlagen, wünscht er sich deshalb mehr Streetworker und findet das so wichtig, dass er es gleich mehrere Male wiederholt: "Jugendliche wie ich wissen doch gar nicht, an wen sie sich wenden sollen. Man muss sich mit uns beschäftigen. Wir sind keine Roboter, wir sind nicht auf die Welt gekommen und waren von Anfang an böse. Es gibt Menschen, die klauen und liebenswerte Menschen sind. Denen bleibt oft keine andere Wahl."

Mit seinen Ideen will der ehemalige Intensivtäter auch andere Jugendliche ansprechen, die kriminell waren oder sind. In dem Kinofilm "Friedensschlag" begleitet Regisseur Gerardo Milsztein den Protagonisten und einige seiner "Kollegen" aus der Work and Box Company auf dem Weg zurück in die Gesellschaft. Mit seinem Schicksal will Kucab anderen Mut machen, ihnen zeigen, dass der Weg aus der Gewalttätigkeit auch funktionieren kann. "Der Film soll wachrütteln. Ich bin sehr froh, dass es einen Menschen wie Gerardo gibt, der in dieses Milieu eintaucht und den Mut dazu hat, darüber zu berichten."

Kucab selbst dreht inzwischen auch Kurzfilme, in seiner Freizeit. Gerade hat der 23-Jährige seine Ausbildung zum Mediengestalter im Internet- und Fernsehbereich abgeschlossen. Als Kameramann, Cutter und Programmierer arbeitet er bei drei verschiedenen Internet-TV-Sendern - sechs Tage die Woche, manchmal sogar sieben. "In der Medienbranche wurde ich inspiriert, von der Kamera, vom Licht, vom Schnitt - ich möchte Filme machen in meinem Leben - Jo, check!" Und er wartet darauf, dass die Reporterin einschlägt.

Im Nachhinein ist Rafael Kucab sehr froh, dass sein Leben so gelaufen ist. "Es sollte alles so passieren. Wer weiß, was für ein Mensch ich heute wäre, wenn ich in Berlin geblieben wäre." Trotzdem will er Ende des Jahres wieder zurück in die Hauptstadt, zu seiner Familie. Jetzt hat er geschafft, was er wollte: den Weg raus aus der Kriminalität. Jo, check!

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