Jaycee Lee Dugard:Die unheimlich Selbstbewusste

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Jaycee Lee Dugard wurde 18 Jahre lang als Sexsklavin festgehalten. In ihrer Gefangenschaft erlitt sie unfassbare Qualen. Doch trotz allem hat sie nie versucht zu fliehen - ihre Psyche passte sich an die grausamen Zustände an.

Jörg Häntzschel

Am 10. Juni 1991 wartete die elfjährige Jaycee Dugard aus Lake Tahoe auf den Schulbus. Der Sexualstraftäter Phillip Garrido und seine Frau Nancy hielten mit ihrem Auto, machten das Mädchen mit einer Elektroschockpistole bewusstlos, zerrten sie auf die Rückbank und hielten sie dann unter unfassbaren Bedingungen auf ihrem Grundstück in Antioch, einem Vorort von San Francisco, gefangen. 18 Jahre lang.

Jaycee Lee Dugard in ihrem ersten Fernsehinterview seit ihrer Befreiung mit Moderatorin Diane Sawyer. (Foto: REUTERS)

Wie kann ein Mensch, ein Kind zumal, so etwas durchstehen? Dugard hat bewiesen, dass das sehr wohl möglich ist. Das hat mit Tapferkeit zu tun, mit einem Selbstbewusstsein, das nicht so leicht erlischt. Doch, und das ist das Unheimliche an dem Buch, das Dugard nun, zwei Jahre nach ihrer Befreiung über ihre Gefangenschaft geschrieben hat, es ist einer Psyche zu verdanken, die sich wie Wachs noch an die furchtbarste Lage anpasst.

Das erste Jahr war das schlimmste. Garrido hält Dugard in einem heißen, mit schweren Schlössern gesicherten und schalldichten Schuppen. Sie ist mit Handschellen gefesselt, bekommt nur gelegentlich Fast Food zum Essen. Die Toilette ist ein überlaufender Eimer in einer Ecke. Sie ist verdreckt, verschwitzt und muss hilflos zusehen, wie die Ameisen über ihren Körper laufen. Garrido verbietet ihr sogar, jemals wieder ihren eigenen Namen zu sagen.

Doch am schlimmsten ist Garrido selbst. Wenn immer sie das Schloss hört, kommt er, um sie zu vergewaltigen oder sich von ihr befriedigen zu lassen. Er habe ein sexuelles Problem, erklärt er dem Mädchen, das zuvor nie einen nackten Mann gesehen hatte. Er brauche ihre Hilfe, damit er sich nicht an anderen Mädchen vergehen müsse.

Seine regelmäßigen Übergriffe weiten sich schon bald aus. "Runs" nennt er die von Speed befeuerten Marathon-Vergewaltigungen, für die er Dugard mit Make-up und lasziver Kleidung herrichtet und sie dann für Stunden in schmerzhaften Positionen fesselt. Er will sie zur "besten Sexsklavin der Welt" machen, erklärt er ihr, als solle sie noch stolz sein darüber.

Nur nicht weinen

Dugard schreibt in A Stolen Life, das am Dienstag erschien und sofort auf den ersten Platz der Bestsellerlisten schoss, wie sehr sie unter all dem leidet, wie sehr sie ihre Mutter vermisst. Sie bemühte sich, nicht zu weinen, weil die Tränen, die sie mit ihren gefesselten Händen nicht wegwischen kann, beim Trocknen so juckten. Doch das wahre Ausmaß ihrer Not kann nicht ausgesprochen, nicht einmal gedacht werden.

Als Dugard, eine völlig normal wirkende, intelligente Frau, am Sonntag in einem zweistündigen Fernsehinterview von ihren Qualen erzählte, lachte sie immer wieder ein flaches, leises Lachen, so als wolle sie die Geschichte, um nicht selbst von ihr erdrückt zu werden, in den Bereich lästiger, aber kurioser Missgeschicke rücken, die einem nun mal passieren im Leben.

Die Dinge ändern sich, als sie mit 14 schwanger wird und, nur mit der Hilfe von Garrido uns seiner Frau, in ihrem dreckigen Gefängnis die erste von zwei Töchtern zur Welt bringt. Bisher hatte Dugard nichts zum Liebhaben als ein paar Katzen, die ihr Garrido brachte - nur um sie ihr jeweils bald wieder wegzunehmen und auf grausame Weise zu töten. Ihre Kinder retten sie aus der Einsamkeit und geben ihr eine Aufgabe.

Andererseits schaffen sie auch ein unauflösbares, ein irremachendes Band zu ihrem Peiniger. Und weil sie nichts mehr fürchtet, als sie zu verlieren, fügt sich Dugard widerstandslos in ihre Situation, gewinnt ihr sogar noch gute Seiten ab. Sie beginnt "wir" zu sagen, wenn sie über sich, ihre Töchter und die Garridos spricht. Und freut sich über ein Dinner, das man gemeinsam isst, "wie eine richtige Familie".

Gleichzeitig verblasst die Erinnerung an die Welt. "Ich frage mich, warum ich nicht glücklich bin", schreibt sie. "Ich sollte glücklich sein. Ich habe so viel mehr als andere." Nichts ist so schockierend an dem Buch wie dieser überlebensnotwendige Realitätsverlust.

Garrido, dessen Manipulationskünste sie anfangs noch durchschaute, kann die Zügel nun lockern, ohne ihre Flucht befürchten zu müssen. Die jahrelange totale Abhängigkeit, das Fehlen jedes anderen Menschen und sein cleveres Regime aus körperlicher und seelischer Verletzung haben sie hilflos gemacht wie einen Vogel, der den Käfig auch bei geöffneter Tür nicht verlässt.

"Manchmal frage ich mich, ob ich, hätte ich die Wahl, gehen würde oder hier bleiben", schreibt sie. "Ich glaube, ich könnte außerhalb dieser Mauern nicht überleben." Deshalb verzichtet sie darauf, im Internet nach einem Bild ihrer Mutter zu suchen, geschweige denn Kontakt mit ihr aufzunehmen. Nicht einmal, als im Fernsehen spekuliert wird, sie sei Opfer eines eben festgenommenen Mörders geworden, rührt sie das weiter.

60 Mal kam die Polizei bei Garrido vorbei

Garrido, der sich immer mehr in religiöse Phantasien verrennt und glaubt, Engel schützten ihn vor dem Entdecktwerden, fährt mit den dreien ans Meer, geht einkaufen zu Walmart, besucht ein Volksfest. Dugard steht peinlich berührt daneben, als Nancy Garrido für ihren Mann Kinder auf dem Spielplatz filmt. Ihre Berichte lesen sich, als sei die Welt hinter einem Schleier verborgen. Sie sieht niemanden und niemand sieht sie.

Dabei wäre ihre Rettung durchaus möglich gewesen. Nachbarn benachrichtigten die Polizei, weil sie sich über die Kinder in seinem Garten wunderten. Die Ortungsdaten der elektronische Fußfessel, die Garrido tragen musste, ließen keinen Zweifel, dass er viel Zeit in dem Labyrinth aus Verstecken hinter seinem Haus verbrachte. Einmal sprach Dugard sogar mit einem der Polizisten, die in den 18 Jahren 60 Mal bei dem auf Bewährung freien Garrido vorbeikamen.

Keiner wurde stutzig. Bis zwei Polizistinnen der seltsame Mann mit den zwei kleinen Mädchen auffiel, der auf dem Campus von Berkeley religiöse Pamphlete verteilte. Am 25. August 2009 wurde Dugard befreit. Bei ihrer ersten Therapiesitzung erkundigte sie sich, wie Garrido, der doch offenbar nicht die richtigen Medikamente für seine psychischen Probleme bekomme, geholfen werden könne.

© SZ vom 14.07.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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