Jahrestag:Stille in Paris

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Mit Marmortafeln, Blumen und einem bewegenden Sting-Konzert im Club Bataclan gedenkt Frankreich der 130 Mordopfer vom 13. November 2015. Der einzige Redner ermahnt die Politik.

Von Christian Wernicke

Der Staat, die Stadt, die Fans im Bataclan, sie alle suchten am Tag der Erinnerung ein Gleichgewicht, ihre eigene Balance zwischen Tod und Leben: Zwischen der Trauer um die 130 Mordopfer vom 13. November 2015 und jener trotzigen Lebensfreude, um die Paris seither ringt. Die große Politik, verkörpert durch Präsident François Hollande, riskierte an diesem Sonntag, was sie sonst selten wagt: Sie hielt inne und schwieg. Den rechten Ton zu finden überließ das Staatsoberhaupt diesmal anderen.

Geschafft hat das Sting. Am Samstagabend trat der britische Rockstar auf die Bühne des Bataclan, zum ersten Konzert, seit hier 90 Menschen im Kugelhagel der Terroristen gestorben sind. Ein Fan, der am Eingang gerade die dritte Sicherheitskontrolle passierte, nannte das Event "eine Art Wiedergeburt".

Drinnen roch's erst nach frischer Farbe, später nach Schweiß. Sting definierte sehr präzise die Mission des Abends: "Wir haben hier heute zwei Aufgaben zu erfüllen", sagte der Brite in fast perfektem Französisch, "uns derer zu erinnern, die hier vor einem Jahr ihr Leben verloren haben - und das Leben und die Musik zu feiern." 1500 Gäste, darunter 500 Überlebende und Angehörige der Opfer, verneigten sich schweigend, ehe der Brite als ersten Song "Fragile" anstimmte. Schon die ersten Zeilen erzählen davon "dass Gewalt zu nichts führt". Das Publikum sang mit: "On and on / the rain will fall / like tears from a star. / On and on / the rain will say / how fragile we are."

Der Andacht folgte das Austoben, zu alten Police-Hits wie "Roxanne" und "Message in a bottle". Wieder so ein Lied mit einer Zeile, die im Bataclan anders klingt: "I send an SOS to the world!" Manche Gäste, so erzählten später Augenzeugen, verharrten die gesamten fast zwei Stunden an jenem Platz, an dem sie schon gestanden hatten als vor einem Jahr der Wahnsinn ins Bataclan hereinbrach.

Sonntagmittag zog die Staatsprominenz vors Bataclan: Die Regierung und vorneweg der Präsident, der zusammen mit der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo an allen sechs Orten des Pariser November-Terrors schlichte Marmorplatten enthüllte. Das Wetter passte. Keine Sonne, kein Wind, Paris lag unter grauem Niesel. Vor dem Stade de France, vor den angegriffenen Restaurants und Kneipen, vorm Bataclan, überall dieselbe Botschaft: "In Erinnerung an die verletzten und ermordeten Opfer" und "an 90 dahingeraffte Leben". Jetzt schaffte es auch Jess Hughes fast bis zum Konzertsaal. Der Sänger der Rockgruppe Eagles of Death Metal war am Vortag von einem Mitbesitzer des Hauses aus der Lobby geworfen worden, weil der Amerikaner im März verbreitet hatte, die Sicherheitsleute des Bataclan hätten mit den Terroristen unter einer Decke gesteckt.

Die einzige Rede an diesem Trauersonntag hielt Michaël Dias am Stade de France. Dort, wo sein Vater - ein portugiesischer Einwanderer - als erstes Opfer des 13. November gestorben war. Der junge Mann mahnte alle Politiker, die Terrorängste nicht für sich auszubeuten. Er schloss: "Vive la tolérance, vive l'intelligence et vive la France!"

© SZ vom 14.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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