Italien:Ein Beben kommt selten allein

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Warum zittert in Italien seit der Zerstörung Amatrices ständig die Erde? Das Land steht unter Spannung - und die baut sich nur Stück für Stück ab. Die Hoffnung der Seismologen: Vielleicht war's das jetzt.

Von Oliver Meiler und Marlene Weiss, Rom/München

Von einem Wunder mag niemand reden. Aber was war es denn sonst? Die jüngsten Erdbeben, die Italien am Mittwochabend erschüttert haben, waren mit 5,4 und 5,9 fast so stark wie jenes vor zwei Monaten in den nahen Ortschaften Amatrice, Accumoli und Arquata. Man spürte sie weit im Umkreis, das zweite sogar bis nach Bozen. Es stürzten auch Häuser ein in Castelsantangelo sul Nera, in Visso und Ussita, den Dörfern in den Marken, unter denen das Epizentrum lag. Und ein Kirchturm. Straßen mussten gesperrt werden. Doch Menschen kamen diesmal keine um, nicht in den Trümmern. Ein 74-Jähriger starb an einem Herzinfarkt. Und das soll kein Wunder sein?

Der "Palazzo rosso" in Amatrice hat das große Beben überstanden - jetzt ist er eingekracht

Es gibt einige gute Erklärungen dafür, warum diesmal nicht mehr Leid über die Gegend kam. In den Dörfern leben zu keinem Zeitpunkt weniger Menschen als im Herbst. Im Sommer, wenn die Urlauber in ihren Zweitwohnungen sind, wachsen sich die Orte zu halben Städten aus; im Winter kommen Touristen zum Skifahren. Im Herbst aber ist es still - vor allem an Werktagen, während an Wochenenden auch schon mal Römer der großen Stadt entfliehen und hochfahren in die Monti Sibillini, in die schöne Natur.

Vergleichsweise menschenleer waren die Dörfer aber auch, weil das Beben vor zwei Monaten manche Häuser beschädigt und unbewohnbar gemacht hatte. Nun wurden viele dieser Häuser ganz zerstört. Mauro Falcucci, der Bürgermeister des 320-Seelen-Gemeinde Castelsantangelo sul Nera, konnte schon kurz nach dem Beben, trotz Stromausfalls, Dunkelheit und Regen, sagen, dass von seinen Mitbürgern niemand zu Schaden gekommen sei. Und es gibt noch eine weitere Erklärung für das Wunder: Etliche Häuser waren 1997 nach einem Beben, das Umbrien und die Marken getroffen hatte, erdbebensicher gemacht worden. Heißt es wenigstens.

Das hieß es allerdings auch vom "Palazzo rosso", einem roten, vierstöckigen Wohnhaus in Amatrice. Es überstand das Beben vor zwei Monaten scheinbar unbeschädigt - wie ein Mahnmal stand es im Zentrum des zerstörten Orts, inmitten des Schutts, wie eine Werbung für mehr Prävention und Einsicht. Aber als die Erde nun abermals bebte, stürzte es ein. Genauso wie das Gemeindehaus von Amatrice.

Und die Erde kommt nicht zur Ruhe. An ganz Italien zerren Kräfte; Afrika drückt von Süden, unterhalb der Adria schiebt sich die adriatische Platte unter die europäische. Das zieht am Apennin, immer wieder gibt der Boden nach. Von "Abschiebungsbeben" sprechen Geologen dann, von "Extensionsspannung". Was das bedeutet, konnten die Italiener in den vergangenen Monaten oft genug beobachten: Die Erde bebt. Nicht nur einmal, sondern immer wieder; allein in der Nacht nach dem ersten Beben unter Castelsantangelo sul Nera zitterte der Boden mehr als 200-mal. Die Experten nehmen an, dass diese Sequenz noch einige Zeit andauern wird.

Denn mit einem Beben allein ist es selten getan: Es mag an einer Stelle Spannung abbauen, dafür schafft es an anderer Stelle neue Belastung. Unterhalb von Italien sind im Laufe der Erdgeschichte Verwerfungen entstanden, tektonische Gräben. Entlang dieser Strukturen wird die Spannung weitergegeben. So sind die zahllosen Nachbeben des Accumoli-Bebens vom August in den vergangenen Wochen immer weiter Richtung Nord-Nordwest gewandert. Wie fallende Dominosteine haben sie eine Spur durch Mittelitalien gelegt. Die neuen Beben trafen das nördliche Ende dieser Linie, am südlichen liegt Amatrice.

Wer weiß schon so genau, wie es im Untergrund ausschaut?

"Es ist wahrscheinlich, dass die beiden Ereignisse zusammenhängen", sagt Stefano Parolai, am Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ) für Frühwarnsysteme zuständig. "Das Gebiet, in dem sich die Nachbeben ereignen, ist etwa 40 Kilometer lang; es scheint, dass einzelne Teile der Verwerfung nach und nach brechen." Fragt sich nur, ob nun der letzte Dominostein erreicht ist oder ob weitere folgen werden.

Entwarnung wird man in einer aktiven Erdbebenregion wie Italien nie geben können. Vielleicht aber ist in Mittelitalien jetzt doch die größte Spannung abgebaut. "Es sieht so aus, als ob die neuen Beben den Bereich zwischen Amatrice und dem Umbrien-Beben aus dem Jahr 1997 getroffen haben, möglicherweise ist diese Lücke jetzt geschlossen", sagt Parolais GFZ-Kollege Torsten Dahm. "Aber es ist ein komplexes System." Wer weiß, wie es genau im Untergrund aussieht? Es kann immer noch parallele Verwerfungen geben, die weiter unter Zug stehen.

Premierminister Matteo Renzi sieht sich jedenfalls in seiner Meinung bestärkt, dass Italien mit einem großen Investitionsprogramm, das er "Casa Italia" nennt, alle gefährdeten Häuser und Infrastrukturen im Land erdbebensicher machen müsse. Jahre wird das dauern, viele Milliarden Euro wird es kosten. Einen Teil des Geldes für den Wiederaufbau in Amatrice, Accumoli und Arquata hat Renzi schon einmal im Budget für 2017 veranschlagt. In Brüssel sah man das nicht so gern, weil Italien wieder einmal gegen die ausgehandelten Defizitvorgaben verstößt. Nun dürfte es noch etwas mehr werden, mit gutem Grund. Vielleicht wird nun auch besser gebaut.

© SZ vom 28.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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