Italien:"Ciao piccola"

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Italiens Premier Matteo Renzi spendet einer Frau beim Staatsbegräbnis in Ascoli Piceno Trost. (Foto: Massimo Percossi/dpa)

In Ascoli Piceno wird bei einem bewegenden Staatsbegräbnis der Erdbebenopfer gedacht. Unterdessen werden neue Details über die eingestürzten Gebäude bekannt.

Von Oliver Meiler, Rom

Ein handgeschriebener Brief bewegt die Italiener, gezeichnet mit "Andrea" und einem kleinen Herz. Es ist der Brief eines Feuerwehrmannes, der in Pescara del Tronto, einem der vier vom Erdbeben verheerten Dörfer in Mittelitalien, mit seinen Kollegen nach zwei Mädchen gegraben hatte, die unter den Trümmern eines Ferienhauses lagen. Die kleine Giorgia, vier Jahre alt, konnte gerettet werden. Ihre fünf Jahre ältere Schwester Giulia aber war schon tot, als man sie aus dem Loch zog. "Ciao piccola", schreibt der Feuerwehrmann, "es tut mir leid, dass wir zu spät kamen, du hattest schon aufgehört zu atmen." Den Brief legte er auf den weißen Sarg von Giulia, der neben 34 weiteren Särgen stand, aufgereiht für das Staatsbegräbnis am Samstag in Ascoli Piceno. Alle hohen Würdenträger der Republik nahmen daran teil. Staatspräsident Sergio Mattarella, ein allseits beliebter und diskreter Mann, versicherte den Angehörigen: "Wir werden euch nie alleinlassen."

Es war die erste Trauerfeier einer langen Reihe. Am Sonntag kündigte zudem Papst Franziskus an, möglichst bald ins Erdbebengebiet reisen zu wollen: Es gehe ihm darum, den Betroffenen "persönlich den Trost des Glaubens, die Zärtlichkeit eines Vaters und Bruders und die Hilfe der christlichen Hoffnung zu bringen". In Pescara del Tronto, Arquata, Accumoli und Amatrice sind nach neuer Erkenntnis 291 Menschen umgekommen. 388 Bewohner und Feriengäste wurden verletzt. Noch immer wird nach Verschütteten gesucht, wobei die Aussicht, dass Menschen lebend aus den Schutt- und Steinhaufen geborgen werden können, sehr klein ist. Den traurigsten Tribut bezahlt Amatrice, wo nur noch jedes zweite Haus steht. Mindestens 230 Menschen verloren dort ihr Leben.

Mittlerweile ermitteln bereits zwei Staatsanwaltschaften in der Frage, ob die dramatischen Folgen des Unglücks nicht auch - und vielleicht sogar in beträchtlichem Maß - menschlichem Fehlverhalten geschuldet ist. Die Untersuchungsrichter sprechen von "Crolli anomali", von "unnormalen Einstürzen". Viele Häuser, die in den vergangenen Jahrzehnten gebaut oder erweitert wurden, sind nur noch Schutthaufen, obschon es seit 2001 harte Auflagen gibt für das Bauen in Hochrisikozonen wie dieser. Schwere Betondächer, illegal angebaute Zimmer und Veranden, aufgestockte Terrassen - offenbar kümmerte sich niemand um die Sicherheit. Die Staatsanwälte aus Ascoli und aus Rieti sammeln nun Baubewilligungen und Prüfungsdokumente, um anhand der Papiere die Kette der Verfehlungen nachverfolgen zu können.

Besonders viel zu reden geben zwei öffentliche Bauten, die trotz kürzlicher Renovations- und Befestigungsarbeiten einfach in sich zusammengefallen sind. Die zu trauriger Berühmtheit gelangte zerstörte Schule von Amatrice war mit 700 000 Euro aus einem Fonds für Erdbebengebiete saniert und vor vier Jahren mit Pomp eingeweiht worden. Nun wurde bekannt, dass die Baufirma ihren Auftrag nach einer fragwürdigen Ausschreibung erhalten haben soll und bereits früher juristische Probleme gehabt hatte. Die Ermittler vermuten, dass billig gebaut wurde - "mit mehr Sand als Zement", wie es einer von ihnen ausdrückte. In Accumoli wiederum stürzte der alte Glockenturm ein, obschon er erst vor Kurzem erdbebensicher gemacht worden war. Dachte man jedenfalls. Er begrub eine Familie unter sich.

© SZ vom 29.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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