In der Türkei in Haft:Von der Ferien- zur Staatsaffäre

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Lauter empfindliche Stellen: Welchen Nerv die deutschen Reaktionen auf die Inhaftierung eines 17-jährigen Uelzeners in der Türkei treffen.

Kai Strittmatter

Als Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier ankündigte, er wolle sich für den in einem türkischen Gefängnis einsitzenden Uelzener Schüler Marco W. einsetzen, da hatte er einen frommen Wunsch: Der Fall solle bitte nicht politisch instrumentalisiert werden.

Wegen einer Liebelei in Haft: Marco W. (Foto: Foto: dpa)

Schon zu dem Zeitpunkt war der Wunsch überholt, hatte doch Unionsfraktionschef Volker Kauder der Türkei attestiert, wenn sie den Jungen nicht augenblicklich freilasse, dann sei sie "noch meilenweit von Europa entfernt", und wahrscheinlich wusste er in diesem Moment die deutsche Öffentlichkeit hinter sich.

In Istanbul war es die Zeitung Hürriyet - das türkische Gegenstück zu Bild -, die als erstes ahnte, dass hier sich möglicherweise eine Staatsaffäre zusammenbraute, nachdem die türkischen Zeitungen den Fall bislang eher ignoriert hatten.

"Ich rief sofort den Justizminister an und bat ihn um Erlaubnis für unseren Reporter, mit dem Jungen reden zu dürfen", schrieb Chefredakteur Ertugrul Özkök am Dienstag. "Jeder weiß, dass wir Türken ein Imageproblem haben", schrieb Özkök. "Und eines wissen wir genau: Die Wahrnehmung wird selbst zur Realität."

Und so kam es, dass am Dienstag der 17-jährige Marco W. zum ersten Mal selbst Auskunft gab über jene Nacht im April, die ihm zum Verhängnis wurde, und jene Wochen, die er seither einsitzt im alten Gefängnis von Antalya. Wenn Marco W. die Wahrheit sagt, und wenn Hürriyet die Wahrheit druckt, dann sind zumindest die Haftumstände weniger dramatisch als zunächst kolportiert.

Zwar teilen sich 31 Männer dort eine Zelle, eine Dusche und eine Toilette, und gleichzeitig mache die Hitze das Schlafen schwer, berichtet der Junge, dennoch habe er sich nie über die Haftbedingungen beschwert. Die Tage seien "unendlich lang", aber weder sei er geschlagen worden noch bedroht oder sonstwie misshandelt.

Das Essen sei so reichlich wie fad: "Es wäre nicht schlecht, wenn es auch mal Pommes und Steak gäbe." Ein Angebot, in ein neueres Gefängnis verlegt zu werden, habe er abgelehnt, weil er schon Freundschaften geschlossen habe, unter anderem mit einem Mithäftling aus dem Kosovo, der Deutsch spricht.

Und jene Nacht im Hotelzimmer der 13-jährigen Britin? Marco W. berichtet von einer harmlosen Liebelei zweier Jugendlicher. Wie die Britin ihm erzählt habe, sie sei 15. Wie sie ihn nachts aufs Zimmer rief. Dass auf dem Balkon des Zimmers auch noch die Schwester der Britin und deren Freund standen.

Zärtlichkeiten ja, Geschlechtsverkehr nein

Zu Zärtlichkeiten sei es gekommen, nicht aber zum Geschlechtsverkehr. Angeblich wollte das Mädchen mehr, sie sei verärgert gewesen, als er das Zimmer verließ. Erst am Tag darauf sei die Polizei gekommen und habe ihn festgenommen. "Das Mädchen soll die Wahrheit sagen", zitiert Hürriyet Marco W. "Sie soll die Anzeige zurückziehen."

Sagt Marco W. selbst die Wahrheit? Die Anklage lautet auf sexuellen Missbrauch. Die beiden hätten getrunken, der Junge sei zudringlich geworden, das Mädchen habe um Hilfe gerufen. Es war die Mutter des Mädchens, die Anzeige erstattete. Er verstehe, meint Hürriyet-Chefredakteur Özkök, dass für die deutsche Presse der Fall "alle Zutaten zu einer rührenden Geschichte" habe.

Aber man solle auch die türkischen Behörden verstehen: "Die Familie der Britin erstattet Anzeige. Am Körper des Mädchens findet man Spermaspuren. In diesem Fall ist es doch wohl normal, dass türkische Polizei und Justiz ihre Arbeit tun." Man solle da jetzt bitte keinen zweiten "Midnight Express" daraus machen.

"Midnight Express" (deutscher Titel: "12 Uhr nachts") ist so etwas wie ein nationales Trauma für die Türken. Der Regisseur Alan Parker verfilmte 1978 die Geschichte des amerikanischen Studenten Billy Hayes, der wegen Drogenhandels in einem türkischen Gefängnis gelandet war - und er tut das in einer Art und Weise, die beim Zuschauer den Eindruck hinterlässt, die Türken kämen ausnahmslos als korrupte, unmenschliche Sadisten zur Welt.

Der reale Billy Hayes entschuldigte sich hinterher mehrmals bei den Türken für den Film, und das "Lexikon des internationalen Films" bescheinigt ihm "rassistische Untertöne". Damals jedoch gewann er mehrere Oscars, lief weltweit sehr erfolgreich und prägte das Türkeibild einer Generation von Kinobesuchern.

Der Fall Marco W. ist zweifellos von kleinerem Kaliber, aber schon sieht sich die deutsche Nachrichtenagentur dpa genötigt, eine Meldung zu versenden mit dem Titel "Jugendliche können in der Türkei sorglos flirten": Händchenhalten sei kein Problem. Solch blinder Alarmismus macht viele Türken fassungslos.

Die Zeitung Sabah sieht schon wieder den Versuch, die Türkei "anzuschwärzen". Und nicht nur das Massenblatt Hürriyet sprach von einer "Beleidigung" der türkischen Justiz nach den Forderungen deutscher Politiker, den Jungen gegen Kaution freizulassen.

Auch Justizminister Cemil Cicek äußerte sich verärgert über die "Einmischung": "Ihre Forderungen zeigen, dass sie keinen Respekt vor dem Rechtswesen eines anderen Landes hat", sagte Cicek. "Uns ist die Unabhängigkeit der Justiz ebenso heilig wie Euch."

Wenn es denn so einfach wäre. Erstens: Selbst wenn man die Ermittlungen der türkischen Polizei im Falle des jungen Uelzeners als selbstverständlich betrachtet, so sind doch spätestens seit seiner Inhaftierung die Gesetze der Verhältnismässigkeit außer Kraft.

Drei Monate 30-Mann-Zelle für einen 17-Jährigen, bis der Prozess überhaupt beginnt - angesichts seines Alters, angesichts der schwachen Indizien ist das mehr als hart. Und zweitens: "Beleidiger" der türkischen Justiz gibt es im Land selbst mehr als genug.

"Nur wer tapfer und verrückt genug ist, wird Gerechtigkeit an einem türkischen Gericht suchen", urteilte zum Beispiel der Kolumnist Burak Bekdil, und handelte sich damit prompt selbst einen Prozess ein wegen "Verunglimpfung der Justiz". Und so sind die Türken natürlich nicht unschuldig daran, dass sie pünktlich zum EU-Türkei-Gipfel mal wieder ein PR-Desaster in eigener Sache abliefern.

"Zeit für Vernunft"

Immerhin: Dass die Gerichte völlig überlastet und ineffizient sind, dass sich Verfahren über Jahre und Jahrzehnte hinschleppen, so dass von Gerechtigkeit am Ende keine Rede mehr sein kann, dass zudem die Haftbedingungen in den meisten türkischen Gefängnis unwürdig sind - das alles gesteht sogar Premier Tayyip Erdogan ein.

Am Sonntag erst, bei der Vorstellung seines Wahlprogramms, gelobte er deshalb eine grundlegende Justizreform. Auch deshalb sprechen sich Politiker wie der Grünen-Europaabgeordnete Cem Özdemir vehement für eine Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aus: So könne man Reformer wie Erdogan stützen, das türkische Rechtswesen auf europäischen Standard heben und in Zukunft Fälle wie den des Marco W. verhindern.

Was geschieht nun mit dem Jungen? Sein Prozess beginnt am 6.Juli. Wenn er Glück hat, reist die Familie des Mädchens aus England an. Sonst droht erneut eine Verschleppung um Monate. Er mag Hoffnung schöpfen aus der Tatsache, dass die türkische Presse seinen Fall eher nüchtern begleitet. "Hoffentlich finden wir bald eine Lösung'", schreibt Hürriyet-Chrefredakteur Özkök: "Dies ist nicht die Zeit für Wut und Gegenschlag, sondern für Vernunft und Logik."

© SZ vom 27.6.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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