Hypochonder:Was die Einbildung ausbildet

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Visite in einer Klinik für Hypochonder: Jeder Patient hat das Gefühl, jede Sekunde könnte die letzte sein. In einer einzigartigen Einrichtung in Norwegen wird Menschen geholfen, deren Gesundheitsangst zu einem ernsten Leiden geworden ist.

Gerhard Fischer

Bergen, im September - Dag Lindahl war sicher, dass er bald sterben würde. Er traf sich zwar noch mit Freunden, ging ins Kino und in Vorlesungen, aber bei allem, was er tat, war er tief traurig. Irgendwann begann er, Abschied zu nehmen. "Ich war ein Jahr lang damit beschäftigt, zu Freunden und Angehörigen Good bye zu sagen", erzählt Lindahl. Danach lag er nur noch im Bett und dachte über seine Beerdigung nach. Lindahl war davon überzeugt, dass er Krebs hatte. Es war nur eine Vorstellung, aber für ihn war sie so gewiss wie für andere die Diagnose eines Arztes. Dag Lindahl (Nachname geändert) war Hypochonder.

Krebs im Kopf: In Wilhelmsens Klinik lernen Hypochonder die krankmachende Gedankenwand zu durchbrechen. (Foto: Foto: ddp)

In Norwegen leiden circa 50000 Menschen an Hypochondrie - rund ein Prozent der Bevölkerung. In anderen westlichen Ländern sieht es etwa genauso aus. Über Hypochonder wird oft gelacht, aber die sogenannte "Gesundheitsangst" ist eine medizinische Diagnose. Zwar werden die Patienten nach den Untersuchungen als physisch gesund bezeichnet; aber ihre Symptome sind real, sie haben wirklich Schmerzen.

"Das Hauptproblem der Hypochonder ist nicht der Schmerz, sondern die falsche Deutung der Symptome", sagt der Therapeut Ingvard Wilhelmsen. Aus Brustschmerzen wird ein Herzinfarkt, aus Kopfschmerzen ein Hirntumor. Die meisten Hypochonder sind im mittleren Alter. In dieser Lebensphase wird ihnen die eigene Endlichkeit bewusst, und sie haben viel zu verlieren, weil sie Kinder großziehen oder beruflich etwas geschaffen haben.

Ort für Trolle und Hexen

Der Arzt und Psychiater Ingvard Wilhelmsen hat vor zehn Jahren in Bergen in Norwegen die erste - und bis heute einzige - Hypochonderklinik der Welt gegründet. Er war damals Professor für Innere Medizin an der Poliklinik in Bergen und kam auf die Idee, eine Hypochonder-Abteilung anzugliedern; die so genannten eingebildeten Kranken hätten ihn schon immer interessiert, sagt er.

Mittlerweile arbeitet der 56-Jährige zur Hälfte als Arzt und zur Hälfte als - ja, wie sagt man: Hypochonder-Therapeut? Gewöhnlich spricht er bloß fünf Sitzungen lang mit den Patienten, mit wenigen ein bisschen länger. 80 Prozent von ihnen sind danach geheilt. "Ich muss nicht alle Details aus dem Leben der Patienten wissen, ich muss ihnen nur helfen, ihr Denken zu verändern." Von den etwa tausend Patienten, die in zehn Jahren bei Wilhelmsen gewesen sind, war keiner wirklich krank. Einer hat fünf Jahre nach der Behandlung einen Herzinfarkt erlitten.

Bergen liegt an der Westküste Norwegens. Die Stadt ist umgeben von bewaldeten Bergen, und ein Fjord schiebt sich mitten in die Stadt, als wolle er das Meer bis an die Häuser spülen. Wenn es regnet, und es regnet oft in Bergen, dann hat die Stadt etwas Verwunschenes; Märchen mit Trollen und Hexen könnten hier spielen. Um zur Polyklinik zu gelangen, geht man am Fjord entlang hinauf zum Fuß eines Berges. Ingvard Wilhelmsen kommt an die Rezeption.

Der schmale, graubärtige Herr hat einen festen Händedruck, seine Augen sind freundlich, aber sehr wachsam. Als würde er sein Gegenüber abtasten mit seinem Blick, so, wie man bei der Flughafenkontrolle mit den Händen abgetastet wird. Dann lädt er uns in sein kleines Zimmer ein. Es ist voller Bücher.

Hypochonder sorgen sich nicht nur um die eigene Gesundheit, sondern machen sich auch Sorgen um ihre Familie oder Freunde. So wie Björn Fristedt, der fürchtet, seine Tochter könnte bei einem Autounfall ums Leben kommen. (Foto: Foto: dpa)

Wenn er einen neuen Patienten empfängt, beginnen die Gespräche meistens so: Der Hypochonder redet zehn, fünfzehn Minuten lang über seine Familie, die Freunde, den Beruf und dann über das Leiden und die Untersuchungen, die gemacht wurden. Dann versucht Wilhelmsen den Unterschied zwischen der wirklichen Krankheit, sagen wir Krebs, und dem eingebildeten Krebs - Wilhelmsen nennt ihn "Gedankenkrebs" - zu zeigen.

Er stellt Fragen: Warum hat man den Krebs, den du angeblich hast, ausgerechnet bei dir nicht gefunden? Wer hat die Diagnose gestellt, dass es kein Krebs ist? Warum traust du dem Arzt nicht, sondern dir? Wenn du sicher bist, dass sich der Experte irrt, warum bist du sicher, dass du dich nicht irrst? So bohrt er an der Gedankenwand, die den Hypochonder umgibt wie ein Gefängnis.

"Mein mentales Immunsystem ging weg"

Vor Krebs haben Hypochonder am meisten Angst. Dann kommen Herzprobleme oder Nervenleiden, zum Beispiel Multiple Sklerose, oder eine ansteckende Krankheit wie Aids. Hypochonder glauben immer, dass sie schwere Krankheiten haben. Es geht in den Gesprächen stets um Leben und Tod. Wie bei Dag Lindahl, der sich schon vom Leben verabschiedet hatte.

Lindahl ist heute 34 Jahre alt. Er hat Literatur studiert, schreibt gerade die Abschlussarbeit. Es hat ein bisschen gedauert mit dem Studium, weil er zwei Jahre lang fast ausgefallen ist. Das Ganze begann, als eines Morgens Blut aus seinem Mund geronnen war. Er ging zum Arzt, wurde untersucht, an einen Spezialisten überwiesen.

Es dauerte zwei Monate, bis er dort den Termin bekam. In dieser Zeit wurde er Hypochonder. Dag Lindahl sagt es so: "Ich wurde paranoid, ich war überzeugt davon, dass ich eine ernste Krankheit habe, dass ich jung sterben werde. Ich konnte mich nicht mehr entspannen, ich hatte permanent Angst. Mein mentales Immunsystem ging weg."

Er stürzte sich in sein Elend wie ein Turmspringer in das Wasserbecken. Die Zeitungsartikel, die er las, und die Fernsehsendungen, die er sah, drehten sich stets um schwere Krankheiten. Und er bezog sie alle auf sich. Das ist typisch für Hypochonder in den Industrienationen und ein Grund, weshalb es in der westlichen Welt mehr Menschen mit Gesundheitsangst gibt als anderswo: Man hat hier mehr Zugang zu Informationen, man bildet sich fort - und mehr ein.

Es hatte Dag Lindahl nichts geholfen, als der Spezialist feststellte, er sei gesund. Das Blut, das aus seinem Mund rann, war Blut aus der beim Fußballspielen verletzten Nase, das nachts in seinen Mundraum gesickert war. Aber Lindahl war schon zu tief drin, um das zu registrieren. Er hatte Panikattacken und das Gefühl, jede Sekunde könnte seine letzte sein. "Ich war völlig hilflos", sagt er.

Aggressive Gespräche

Die Zeit verging. Irgendwann empfahl ihm ein Arzt, einen Psychologen aufzusuchen. Dag Lindahl, der beratungsresistent geworden war, ließ noch einmal ein Jahr verstreichen, ehe er zu Ingvard Wilhelmsen ging - immer noch in der Überzeugung, er sei physisch krank, nicht psychisch. "Wilhelmsen ist auch Arzt, nicht nur Psychiater, ich ging zu ihm, weil er mich erst noch einmal untersuchen sollte", sagt Dag Lindahl. Zu einem reinen Seelendoktor wäre er nicht gegangen.

Nach der Untersuchung und nach vier Stunden Gesprächstherapie gestand sich der Kopfmensch Lindahl ein, dass sein Leiden nur im Kopf existierte. Dass er ein Hypochonder ist. "Die ersten Gespräche waren sehr aggressiv, aber sehr gut, Wilhelmsen kennt die Tricks." Erstmals schöpfte Lindahl Hoffnung. Zwischen dem Tag, an dem er Blut im Mund hatte, und dem Tag, an dem diese Hoffnung gedieh, waren fast zwei Jahre vergangen.

Lindahl benötigte 16 Therapiestunden, bis er als geheilt galt, er war ein schwerer Fall. Das Ganze ist jetzt fünf Jahre her, die Symptome und Sorgen kamen

nie mehr zurück. Heute begleitet er Ingvard Wilhelmsen sozusagen als Model auf Vortragsreisen und zu Vorlesungen. "Sich Sorgen machen", sagt er, "ist eine Verschwendung des Lebens."

Früher dachte man, Hypochondrie sei nur sehr schwer, vielleicht gar nicht zu behandeln. Nun ist die kognitive Therapie die anerkannteste Methode, wenn es sich um primäre Hypochondrie handelt. "Primäre Hypochondrie sagt man, wenn die Hypochondrie das einzige Leiden ist", erklärt Ingvard Wilhelmsen. Die Gesundheitsangst könne man aber auch als Folge einer anderen psychischen Krankheit haben - Depressionen, Zwangspanik - oder Angstleiden. Dann nennt man es sekundäre Hypochondrie. Die muss anders behandelt werden.

Der Hebel im Kopf

Bei der kognitven Therapie sollen die Patienten lernen, mit der Unsicherheit des Lebens und der Sicherheit des Todes zu leben. "Hypochonder sind oft Perfektionisten", sagt Wilhelmsen, "also müssen sie auch zu 100 Prozent sicher sein, dass sie jetzt nicht sterben - sie versuchen, den Tod zu kontrollieren." Aber man kann von einem Moment auf den anderen damit aufhören. Man kann den Hebel im Kopf selbst umlegen: heute, in dieser Sekunde, jetzt.

Es gibt verschiedene Ursachen für Hypochondrie. Oft ist sie vererbt. Gefährdet sind auch Menschen, die tatsächlich ernsthafte Krankeiten oder eine Häufung von Todesfällen in der Familie oder im Freundeskreis haben. Wie Björn Fristedt. Björn Fristedt (Name geändert) hat gerade seine zweite Stunde bei Doktor Wilhelmsen hinter sich.

Der 38-Jährige ist begeistert: "Wilhelmsen sagt dir die Sachen direkt ins Gesicht, das ist hart, aber du hast immer das Gefühl, dass er auf deiner Seite ist. Er macht dich nicht zum Narren, er verletzt deine Gefühle nicht. Und er gibt dir keine Pillen, um dich ruhigzustellen." Fristedt ist eloquent und lebendig, er will Lösungen haben statt Gezeter, er ist das Gegenteil einer jammernden Hypochonder-Karikatur. Dass es ihn trotzdem erwischt hat, sagt viel über diese Krankheit aus - fast jeder kann sie bekommen.

Anders als Dag Lindahl wusste Björn Fristedt sehr schnell, dass es nicht der Körper ist, der ihn lähmte. "Ich wusste, dass ich nicht so krank sein kann, es war nicht realistisch", sagt er. Also stoppte er die Untersuchungen und las ein Buch von Wilhelmsen über Hypochondrie. Und er merkte bald, dass sein Problem das Sorgenmachen ist.

Sorgen als Kontrolle

"Vergangene Woche hat mein Bruder meine zehnjährige Tochter mit dem Auto abgeholt", erzählt Fristedt. "Er fuhr mit ihr zu meinen Eltern in den Norden Norwegens, ich war wie immer stundenlang beunruhigt - dass mein Bruder müde wird und einschläft, dass ein Lastwagen mit seinem Auto zusammenstoßen könnte und so weiter." Er sorgt sich immer. Denn er glaubt, dass er die Sache kontrollieren kann, wenn er sich sorgt. Er hat Angst loszulassen, denn dann könnte etwas passieren. Glaubt er.

Ingvard Wilhelmsen bringt ihm bei, dass dieses Denken Unfug ist. Gesund ist es, der Tochter beim Radfahren zu sagen, sie solle einen Helm tragen. Krank ist es, sich Sorgen zu machen über Sachen, die man nicht kontrollieren kann. Björn Fristedt ist ein Katastrophendenker, und "die meisten Gedanken, die sich Katastrophendenker machen, sind nur Mist", sagt Wilhelmsen. Man müsse lernen, seinen negativen Gefühlen zu misstrauen, sagt er, man müsse einen Realitäten-Check machen.

Der zweite Kniff

Wilhelmsen rechnete Fristedt vor, wie wahrscheinlich es sei, dass gerade seine Tochter von einem Autounfall betroffen sei. Er rechnete vor, wie viele Autos pro Tag zwischen Bergen und dem Wohnort der Eltern unterwegs sind. Es sind viele Tausend. Ein Unfall auf dieser Strecke passiert alle paar Monate. Wie wahrscheinlich ist es also, dass gerade an dem Tag, an dem der Bruder mit der Tochter fährt, ein Unfall passiert, in den ausgerechnet die beiden verwickelt sind?

Vielleicht noch wichtiger ist der zweite Kniff. "Wilhelmsen sagt, ich solle mir vorstellen, dass nach ein paar Stunden Sorgen machen das Krankenhaus anruft", berichtet Björn Fristedt. "Dass sie sagen, meine Tochter sei verunglückt. Dass sie sagen, sie sei tot." Das kann passieren, egal ob er sich Sorgen macht oder nicht. "Was hätte ich in diesem Fall davon, wenn ich mich gesorgt hätte? Sollte ich dann sagen: Sie ist tot, hurra, ich habe es ja schon immer gewusst?"

Björn Fristedts Problem ist, dass er Ausnahmen zur Regel macht, weil er schlechte Erfahrungen gemacht hat. Neben seiner Frau, die überlebte, hat vor zwei Jahren ein Schwager Krebs bekommen, er starb. Niemand weiß, ob es weitere Freunde oder Angehörige oder ihn selber treffen wird. Aber falls es so kommen sollte: Björn Fristedt wird es nicht verhindern können. Er ist auf dem Weg, das zu verstehen, er will es jedenfalls, auch weil er nicht mehr anders kann: "Ich bin es so leid, mich zu sorgen."

© SZ vom 23.9.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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