Hirnforschung:Doping fürs Gedächtnis

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Wissenschaftler arbeiten an Präparaten, die das Lernen und Erinnern erleichtern sollen - bald soll es soweit sein.

Von Michael Simm

Als Eric Kandel vor acht Jahren ankündigte, eine "Gedächtnispille" sei in greifbarer Nähe, entlockte das den meisten Hirnforschern nur ein müdes Lächeln.

Schließlich hatte der Medizin-Nobelpreisträger von der New Yorker Columbia Universität sich seinen hervorragenden Ruf vor allem mit Hilfe der Meeresschnecke Aplysia erworben. Dort hatte er Veränderungen einzelner Nervenzellen und Zellbestandteile durch primitive Lernprozesse aufgezeigt.

Dass das jahrzehntelange Studium der schleimigen Weichtiere dem Grundlagenforscher Kandel die Pole-Position beim Rennen um eine Gedächtnispille verschafft haben sollte, war schwer zu glauben.

Doch der 75-jährige in Wien geborene Neuroforscher hat es offensichtlich geschafft, auf den Zug der Zeit aufzuspringen: Als Mitbegründer ist er verantwortlich für den kommerziellen Erfolg der amerikanischen Firma Memory Pharmaceuticals, einer mittlerweile börsennotierten Firma, deren Wert inzwischen bei fast 160 Millionen Dollar liegt - Tendenz steigend.

Vor allem, wenn die in Kandels Firma entwickelten Substanzen als Arzneimittel auf den Mark kommen.

Kandel ist kein Einzelfall: Viele Wissenschaftler, die sich in der Gedächtnisforschung einen Namen gemacht haben, verlassen ihre Wirkstätten und nutzen die Wissensexplosion auf ihrem Gebiet, um neue Medikamente auf den Markt zu bringen.

Umsatz von rund 10 Milliarden Dollar

Mindestens 40 Kandidaten für Gedächtnispillen sind derzeit in der Entwicklung; etwa ein Dutzend Pharmafirmen investieren dafür jährlich rund 1,5 Milliarden Dollar. Der weltweite Umsatz mit Medikamenten gegen das Vergessen liegt derzeit bei rund 10 Milliarden Dollar.

In den heutigen, auf Rezept erhältlichen Arzneien sehen Experten nur die Vorhut einer Armada von Substanzen, die Jedermanns Gedächtnis bei Bedarf beflügeln könnten. Wenn die nächste Generation Gedächtnispillen so gut verträglich sein sollte, dass diese auch für gesunde Menschen in Frage kommen, könnte sich der Umsatz vervielfachen.

Garry Lynch von der University of California in Irvine hatte schon in den 80er-Jahren mehrere Moleküle entdeckt, die die Signalübertragung im Gehirn durch Stimulation von Empfangsmolekülen auf den Nervenzellen erhöhen, der AMPA-Rezeptoren. Lynchs Spitzenkandidat, das "Ampakin" CX-516, verhalf gesunden Senioren zwischen 65 und 73 Jahren binnen 75 Minuten zur gleichen Merkleistung, wie sie Studenten unter 30 Jahren besaßen.

Kaum mehr als Tierversuche vorzuweisen

Laut Lynch "stellt die Modulation der AMPA-Rezeptoren eine neue Strategie dar, um die Gedächtnisleistung zu verbessern" (1). Von der Hoffnung, CX-516 einsetzen zu können, um kurzfristig das Erinnerungsvermögen zu steigern, musste sich Lynch verabschieden.

Der Wirkstoff war so schwach, dass die Probanden enorme Mengen einnehmen mussten. Jetzt setzt er auf das verbesserte Ampakin, CX-717. Es solle "schon bald" in klinischen Versuchen getestet werden, behauptet Lynch (2).

Noch haben die meisten Forscher kaum mehr als Tierversuche vorzuweisen. So gelang es Timothy Tully vom Cold Spring Harbor Laboratory nördlich von New York, Fruchtfliegen per Genmanipulation zum perfekten Gedächtnis zu verhelfen.

Der Eingriff erhöhte die Konzentration des Eiweißes CREB in den Nervenzellen. Danach konnten sich die Fliegen den Weg zur Futterquelle schon im ersten Anflug merken. Normale Artgenossen brauchten dafür ein Dutzend Wiederholungen. CREB beeinflusst auch bei Mäusen das Langzeitgedächtnis.

Dagegen bilden geistig behinderte Patienten mit dem Rubinstein-Taybi-Syndrom eine fehlerhafte CREB-Version. "Eine revolutionäre Entdeckung", so Tully. Man habe geistige Behinderungen bisher auf irreversible Entwicklungsstörungen zurückgeführt. "Nun wissen wir, dass sie biochemische Ursachen haben können, die sich vielleicht behandeln lassen."

Solche Visionen haben Tully und seinen Kollegen Jerry Yin dazu bewogen, die Firma Helicon Therapeutics zu gründen, die auf Basis von CREB neue Arzneien entwickeln will.

Der Markt dafür ist da. Vor allem in den USA nehmen stressgeplagte Manager und Studenten unter Leistungsdruck immer häufiger Pillen wie das Alzheimer-Präparat Donepezil oder Ritalin - ein Mittel, das zur Behandlung hyperaktiver Kinder entwickelt wurde.

Die US-Armee, die schon die Entwicklung von Ampakinen durch Gary Lynchs Firma gefördert hatte, lässt seit sechs Jahren an Substanzen forschen, die Soldaten wach halten. Vorübergehend galt Modafinil als ideal, ein Präparat zur Behandlung der Einschlafkrankheit Narkolepsie.

Obwohl sich Modafinil nicht wirksamer als eine hohe Dosis Koffein erwies, wird es von vielen US-Psychiatern an Gesunde verschrieben, wie das online-Magazin Slate berichtete.

Allmählich entdecken Ethiker die Brisanz dieser Entwicklung. Alarmiert notierte Leon Kass, Leiter des Konzils für Bioethik des US-Präsidenten: "Es sieht nach Betrug aus, wenn hervorragende Leistungen, die bisher nur mit Disziplin und Arbeit erreichbar waren, nun durch Pillen, Genmanipulation oder implantierte Geräte möglich werden."

Auch Science-Herausgeber Donald Kennedy macht sich Sorgen (3). Andererseits provozierte er kürzlich seine Zuhörerschaft mit der Frage: "Wenn die Leute Probleme damit haben, die Hirnleistung zu erhöhen, warum schicken sie dann ihre Kinder auf die Schule?"

Die Grenze verlaufe da, wo Menschen unter Druck geraten und die "kognitiven Verstärker" gegen ihren Willen einnehmen, sagt Hans Förstl, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie am Klinikum rechts der Isar in München.

Gehirn ohne Pillen auf die Sprünge helfen

Der Gedächtnisexperte ist überzeugt, dass es Möglichkeiten gibt, dem Gehirn auch ohne Pillen auf die Sprünge zu helfen. So ist ausreichend Schlaf eine wichtige Voraussetzung, dass Gelerntes auch "hängen bleibt".

Gedächtnisinhalte verfestigen sich während der REM-Schlafphasen, in denen die meisten Träume ablaufen. "Diese Erkenntnis sollte man nutzen, indem man vorzugsweise vor dem Einschlafen lernt", rät Förstl.

Auch starker Kaffee mit einigen Stücken Zucker hilft, wenn die Konzentration nachlässt. Während Zucker die Energiespeicher füllt, verstärkt das Koffein die Wirkung des "Lerntransmitters" Acetylcholin.

Förstl warnt jedoch, dass sich die perfekte Balance eines gesunden Gehirns nicht beliebig zugunsten eines besseren Gedächtnisses verschieben lässt, ohne an anderer Stelle Einbußen zu erleiden.

Will man überhaupt ein perfektes Gedächtnis? In der Kurzgeschichte "Das unerbittliche Gedächtnis" beschreibt der Schriftsteller Jorge Luis Borges schon mal die Aussichten: Nach einem Sturz kann der Protagonist Funes seine Erinnerungen nicht mehr vergessen.

"Er kannte auswendig die Form der Wolken am südlichen Himmel des 30. April 1882 und er konnte sie in seinem Gedächtnis vergleichen mit den gesprenkelten Streifen auf dem Einband eines spanischen Buches, das er nur ein einziges Mal gesehen hatte."

Vielleicht ist es ganz gut, nicht alles im Gedächtnis zu behalten.

(1)Current Opinion in Pharmacology, Bd. 4, S. 4, 2004 (2)Science, Bd. 304, S. 36, 2004 (3)Science, Bd. 304, S. 17, 2004

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