Flugunglück von Überlingen:Eine nicht entschuldbare Tragödie

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Er hatte seine Familie bei dem Flugunglück von Überlingen verloren. Wegen der vorsätzlichen Tötung eines Fluglotsen erhielt Vitali Kalojew acht Jahre Haft.

Hans Holzhaider

Einmal schien es, als würde dieser Prozess aus den Fugen geraten. Eine knappe Stunde nach Verhandlungsbeginn fragte der Vorsitzende Richter Werner Hotz den Angeklagten Vitali Kalojew nach den Geburtsdaten seiner Kinder Konstantin und Diana, die beide im Juli 2002 bei der Flugzeugkatastrophe von Überlingen getötet worden waren.

Bei dem Flugunglück von Überlingen 2002 wurden 71 Menschen getötet (Foto: Foto: AP)

Dem 49-jährigen Russen versagte die Stimme, er wischte sich mit dem Handrücken die Augen, man hätte eine Stecknadel fallen gehört in diesem Augenblick. Und mitten in diese Stille hinein schallte plötzlich lautes russisches Stimmengewirr, dazwischen Fetzen von Marschmusik, Frauenstimmen, Männerstimmen, aufgeregt durcheinander rufend.

Der Vorsitzende Richter sprang auf, schaute nach rechts, nach links, unsicher, woher die Geräusche kamen. Die vielen Polizisten im Saal waren aufs Höchste beunruhigt. Immerhin saß vorne in der ersten Reihe Taimuras Mamsurow, der Präsident der russischen Teilrepublik Nordossetien, mit seinem Gefolge, und hinten im Zuschauerraum waren zwei Sitzreihen gefüllt mit sehr breitschultrigen Männern in dunklen Anzügen, die aus Vitali Kalojews Heimat angereist waren, um mitzuerleben, wie man hier in der Schweiz über einen der Ihren zu Gericht sitzt. Eine, zwei Minuten lang herrschte totale Verwirrung. Dann schaltete jemand die Lautsprecheranlage ab, und der Lärm verstummte. Man holte dann einen Kommunikationsexperten, der befand, es müsse eine Interferenz zwischen einem der vor dem Gerichtsgebäude aufgestellten Übertragungswagen und einem im Saal befindlichen Handy aufgetreten sein.

Im Prinzip geständig

Von da an ging alles reibungslos und zügig voran, so zügig, dass einem als deutschem Beobachter Hören und Sehen verging. Ein Prozess dieses Zuschnitts würde in Deutschland Wochen, wenn nicht Monate dauern. Die Schweizer erledigen das in zwei Tagen. Das liegt an einer Eigenart der schweizerischen Strafprozessordnung: Wenn der Angeklagte geständig ist, kann man hier auf eine Beweisaufnahme verzichten und nach Aktenlage entscheiden. Kein einziger Zeuge muss gehört werden.

Vitali Kalojew war geständig, zumindest im Prinzip. Er stellte nicht in Abrede, dass er es war, der am 24. Februar 2004 dem dänischen Fluglotsen Peter Nielsen die tödlichen Stichverletzungen beigebracht hatte. Er könne sich nur an die Tat selbst nicht erinnern. "Mir wurde schwarz vor Augen", sagt er.

Staatsanwalt Ulrich Weder sagt, er glaube kein Wort von dieser angeblichen Erinnerungslücke. Es gebe, wenn schon keine Beweise, so doch schwer wiegende Indizien dafür, dass Vitali Kalojew von langer Hand geplant habe, den Fluglotsen zu töten. Weil Nielsen im Dienst gewesen war, als die beiden Flugzeuge über dem Himmel von Überlingen kollidierten, wies Kalojew diesem die Schuld am Tod seiner Familie zu. Die Tat des Russen liegt nach Ansicht des Staatsanwalts im Grenzbereich zum Mord: "Er hat Peter Nielsen gefühlskalt abgeschlachtet, als dieser schon wehrlos am Boden lag." Zwölf Jahre Zuchthaus forderte der Ankläger für den Russen. Verteidiger Markus Hug hielt drei Jahre Gefängnis wegen Totschlags für angemessen, nach Schweizer Recht die mildeste Form eines Tötungsdelikts, die dann vorliegt, wenn der Täter "in einer entschuldbaren heftigen Gemütsbewegung oder unter großer seelischer Belastung" handelt.

Alle drei Richter einer Meinung

Die Urteilsfindung ist eine weitere schweizerische Spezialität: Die drei Richter der Strafkammer beraten in öffentlicher Sitzung, wobei der Berichterstatter zunächst ausführlich den Sachverhalt und die rechtliche Würdigung vorträgt und die anderen Kammermitglieder dann ihre Zustimmung oder ihre abweichende Meinung zur Kenntnis geben.

Hier waren alle drei Richter einer Meinung: Vitali Kalojew ist wegen vorsätzlicher Tötung zu verurteilen, die mildere Strafvorschrift des Totschlags findet keine Anwendung. Zwar könne nicht bestritten werden, dass der Russe als Folge einer "heftigen Gemütsbewegung" handelte und auch unter "großer seelischer Belastung" stand, "entschuldbar" im Sinne des Gesetzes aber sei beides nicht.

Die Verzweiflung nach dem tragischen Verlust seiner Familie sei zwar absolut einfühlbar, trug der Referent vor, sie hätten aber bei Vitali Kalojew einem psychiatrischen Gutachten zufolge das Ausmaß einer andauernden Persönlichkeitsstörung angenommen. Das aber schließt nach höchster Schweizer Rechtsprechung die "Entschuldbarkeit" der Affekthandlung aus und kann nur bei der Strafzumessung berücksichtigt werden.

Hinzu komme, dass Kalojew die Situation, die schließlich mit den tödlichen Stichen endete, in "krankhafter Verkennung der Gegebenheiten" selbst herbeigeführt habe. Peter Nielsen habe keine Chance gehabt, so zu reagieren, wie der Angeklagte es von ihm erwartet habe. Kolajew sprach weder deutsch noch englisch, er hatte nicht einmal die Möglichkeit, dem Fluglotsen zu erklären, was er von ihm wollte. "Er hat die Eskalation selbst in Kauf genommen", sagte der Richter.

© SZ vom 27.10.05 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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