Finnland:Mobiles Streben

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Im finnischen Nokia arbeitet man daran, die weltweit erste Stadt ohne Festnetz zu werden - die Verwaltung hat gerade alle ihre Telefone entsorgt.

Gunnar Herrmann

Yrjö Jokela ist eine finnische Arbeiterlegende. Die Schlagfertigkeit des Zimmermanns ist sagenumwoben, er begann jeden Satz mit einem Fluch und außerdem war er ziemlich eitel. Eines Tages ließ er in seiner Werkstatt in der Papierfabrik einfach alles liegen und ging zum Friseur.

Auf dem Rückweg traf er dann seinen Chef. "Haben sie sich etwa während der Arbeit die Haare schneiden lassen?", fragte der Ingenieur. Und Jokela antwortete: "Verdammt! Sie sind mir ja auch während der Arbeit gewachsen."

Das war Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Heute hätte der Ingenieur seinem Angestellten wohl eine mahnende Kurznachricht geschickt. Denn in Jokelas Heimatstadt Nokia sind Mobiltelefone ein Muss. Im Rathaus ist man gerade dabei, alle Festnetztelefone aus den Amtsstuben entfernen.

Start in Gummistiefeln

Die Stadtverwaltung im Geburtsort des weltweit größten Handy-Herstellers soll künftig nur noch kabellos kommunizieren. Das hört sich nach blitzender High-Tech-Kommune an. Aber in Wahrheit hat sich Nokia auch im 21. Jahrhundert viel von Jokelas rauem Charme bewahrt. Die schicke Handy-Firma ist nämlich von einer Arbeiterfamilie gegründet worden.

Die Geschichte des Nokia-Konzerns begann Mitte des 19. Jahrhunderts mit einer Papierfabrik auf einer Insel im Fluss Nokia, mitten in der gleichnamigen Gemeinde einige Kilometer entfernt vom Industriezentrum Tampere in Südfinnland. Noch heute kann man die Backsteingebäude sehen, in denen einst Yrjö Jokela fluchte und seine Vorgesetzten das Geld zählten, mit dem sie im Laufe der Zeit immer mehr Firmen kauften.

Die Papierfabrik gibt es heute noch, sie stellt unter anderem Klopapier her. Außerdem gehört auch ein Gummistiefelwerk zur Nokia-Familie sowie der Reifenproduzent Nokian Renkaat, derzeit wichtigster Arbeitgeber der Stadt. Seine etwa einen Kilometer lange Fabrikhalle ist das größte Gebäude am Ort. Mit den Handys haben heute weder die Gummistiefel noch die Reifen etwas zu tun - der Mobilfunkkonzern Nokia hat alle Beteiligungen an diesen Tochter-, beziehungsweise Mutterfirmen verkauft und sich längst von seinen industriellen Wurzeln getrennt.

Kabellose Behörde der Zukunft

In der Stadtverwaltung ist man aber trotzdem stolz auf den erfolgreichsten Sprössling des Ortes, auch wenn dessen Manager jetzt in Helsinki residieren. Schließlich haben die Mobiltelefone den Namen des Ortes bis in die hintersten Winkel der Welt bekannt gemacht. Im Rathaus von Nokia spürt man allerdings wenig von dieser Berühmtheit. Es ist ein praktisches, eckiges Gebäude mit langen Gängen, Neonlicht und Linoleumboden.

Man kann sich nur schwer vorstellen, dass hier die kabellose Behörde der Zukunft daheim ist. Blickt man allerdings hinter den Tresen vor der Rezeption, dann bemerkt man, dass auch hier der Fortschritt eingezogen ist. Telefonistin Salla Heinisuo hat eine Freisprechanlage am Ohr, ein Mobiltelefon vor sich auf dem Tisch und einen Computer, der als Schaltzentrale dient. Neben ihr am Boden stehen mehrere Kisten, aus denen verstaubte Hörer, Kabel und große Büro-Telefonanlagen ragen.

Im ganzen Gebäude stehen solche Kisten, in ihnen sammeln die Rathausmitarbeiter die Vergangenheit. Die Gegenwart gehört bereits den kleinen Handys, die überall auf den Schreibtischen herumklingeln. Bis Ende des Monats sollen auch die letzten Telefonkabel verschwinden.

Personalchef Vesa Koskinen berichtet, dass die Umstellung bislang recht reibungslos lief und er nur wenige Beschwerden hatte. Der größte Unmut sei dabei aber von Leuten gekommen, "die lieber ein teureres Handy-Modell haben wollten", sagt er. Fünf verschiedene Modelle stehen zur Verfügung, natürlich alles Nokia-Telefone.

Es gibt einfache für gewöhnliche Beamte, robuste für Arbeiter im Außendienst und luxuriöse, mit Kameras oder Tastatur zum Schreiben von E-Mails, für Abteilungsleiter und dergleichen. Außerdem gibt es ein Mobiltelefon, das aussieht wie ein großer Festnetz-Apparat, natürlich ohne Kabel. Dieses Gerät ist für Gemeinschaftsräume bestimmt, etwa für die Lehrerzimmer in den kommunalen Schulen. Dort braucht man etwas Handfestes, das man nicht aus Versehen verlegen oder einstecken kann.

In der Freizeit bleiben Handys aus

Die Stadtverwaltung mit ihren Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern ist nach der Reifenfabrik zweitgrößter Arbeitgeber der 30 000-Einwohner-Gemeinde. Insgesamt gab es 1168 Telefone in der Verwaltung, nach der Umstellung sollen es nur noch 920 sein. Das ist der eigentlich Zweck des Projekts: Jeder Mitarbeiter wird nur noch ein Gerät und eine Nummer haben und damit besser erreichbar sein. Nun muss man fragen, ob die Angestellten in Nokia denn keine Angst vor ihrer mobilen Zukunft haben.

Etwa davor, dass die Handy-Strahlen ihre Gesundheit beeinträchtigen, oder dass ihre Freizeit von einem ständigen Klingeln begleitet wird. Doch in der Kleinstadt sieht man diesen möglichen Problemen recht gelassen entgegen. Die Sache mit der Strahlung ist in Finnland ohnehin kein großes Thema, viele Finnen haben ihr Festnetztelefon zu Hause schon längst entsorgt. So gab es auch in Nokia keine Probleme, als man die Kindergärten mit Mobilfunkstationen bestückte, damit die neuen Handys der Mitarbeiter richtig funktionieren.

Und um ihre Freizeit machen sich die Rathaus-Angestellten auch keine Sorgen: Denn wenn sie frei haben, dürfen sie das Telefon abstellen. Tatsächlich ist es so, dass es während der Mittagspause in der Rathaus-Kantine nicht ein einziges Mal läutet. "Mein Handy liegt im Büro", erklärt eine Sachbearbeiterin gelassen, die eine Teigtasche mit Hackfleischfüllung verputzt. "Da liegt es meistens, wenn ich esse. Die Zeit hier in der Kantine, die gehört nur mir." Yrjö Jokela hätte vielleicht gesagt: "Verdammt! Ich hab ja auch während der Arbeit Hunger bekommen."

© SZ vom 12.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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