Falscher Rockefeller vor US-Gericht:Häutungen des Herrn G.

Lesezeit: 6 min

Er liebte das Leben auf großem Fuß und legte sich einen der schillerndsten Namen Amerikas zu: Rockefeller. In Boston beginnt der Prozess gegen den Oberbayern Christian G. - ihm wird auch Mord vorgeworfen.

Marten Rolff

Sie hatten ihn gewarnt. Hatten ihm prophezeit, dass er "sich verlieren" würde in Amerika, diesem großen, erschreckenden Land, mit all den fremden Menschen.Für viele hier im Dorf war es 1978 ja schon unvorstellbar, wenn jemand nach Rosenheim ging oder nach München. Nein, in Bergen im Chiemgau - 5000 Einwohner, drei Bäckereien, eine Volksschule - blieb man damals daheim. Man pendelte vielleicht für eine Arbeit nach Traunstein. Aber Amerika? "Was willst du denn da, du hast doch gar nichts gelernt", sagten seine Freunde. Aber der Christian hat nur gelacht.

Prozessbeginn in Boston: Jahrzehntelang narrte der aus einem Dorf in Oberbayern stammende G. zahllose Menschen in den USA. (Foto: Foto: dpa)

Rückblickend wirkt es heute so, als habe Christian G. durchaus geplant, sich zu verlieren. Für immer. 17 war er, als er ging, damals, vor 32 Jahren.

Ein blasser Schlaks mit großen Ideen

Der Sohn eines Kunstmalers und einer Schneiderin, ein blässliches Kerlchen aus der Bahnhofstraße, mit viel zu langen rotblonden Haaren, viel zu großen Sonnenbrillen und viel zu versponnenen Ideen, wie sie in Bergen noch heute erzählen. Ein schlaksiger Junge, der - so glauben heute die amerikanischen Ermittler - es nicht erwarten konnte, dass seine unbedeutende Existenz sich endlich auflöste.

In lauter phantastische Geschichten, die in New York, Massachussetts oder Kalifornien spielten. In denen Berufe vorkamen wie Moderator, Atomphysiker, UN-Diplomat oder Börsenmakler. Und deren Protagonisten Namen trugen wie Chris Gerhart, Christopher Chichester oder Christopher C. Crowe.

Immer wenn er aufzufliegen drohte, soll Christian G. jeden dieser Namen und Berufe wieder abgelegt haben wie eine Raupe, die sich häutet. Weil sie nur Stationen waren auf dem Weg zum schillernden Schmetterling Clark Rockefeller. Havard-Absolvent, Milliardenerbe, Kunstsammler, Wohltäter und nun, nachdem sein Lügengebäude zusammengekracht ist, womöglich einer der größten Hochstapler in der Geschichte der USA.

Der Nachbar von John Kerry

An diesem Dienstag beginnt in Boston der Prozess gegen Christian G. aus Bergen im Chiemgau. Ihm drohen fünf Jahre Haft. Vor Gericht wird es darum gehen, ob der 48-Jährige sich in Serie falsche Existenzen erschlich und reihenweise Menschen hinterging, unter ihnen zwei Ehefrauen. Und auch darum, ob er im vergangenen Juli seine siebenjährige Tochter entführte und dabei einen Sozialarbeiter verletzte, der das Treffen beaufsichtigte.

Viel wichtiger aber wird ein Vorwurf sein, der in diesem Prozess mitschwingt, auch wenn er nicht direkt verhandelt wird. Noch nicht. Wie weit war der Mann, der sich bis heute Clark Rockefeller nennt, bereit zu gehen, um seine Fassade aufrecht zu erhalten? So weit, dass er Menschen, die seine Identität anzweifelten, beseitigte und ihre Leichen im Garten vergrub? Das ist eine Frage, für die sich viele Ermittler derzeit mehr interessieren als für Kindesentzug oder Körperverletzung.

Wer im Fernsehen die Auftritte des inhaftierten Clark Rockefeller verfolgt hat, der sah keinen selbstsicheren Spross einer Milliarden-Dynastie. Stattdessen sah man einen kleinen Mann mit viel zu großer Brille, hängenden Schultern und Mundwinkeln. Einen Mann, dessen Blick sich seltsam verliert und dessen schüchternes Lächeln flackern kann wie eine Kerze ohne Sauerstoff.

Leichenfund in der Eigenheim-Idylle: In dem einst von John und Linda Sohus bewohnten Haus in Kalifornien war G. zu Gast. Im Garten fand sich eine Leiche, verpackt auf drei Plastiksäcke. Hat G. etwas damit zu tun? (Foto: Foto: dpa)

Die Polizei hat per Abgleich der Fingerabdrücke längst nachgewiesen, dass es sich bei diesem Mann um Christian Karl G. handelt, eingereist 1978 als Austauschschüler aus Bayern. Und die US-Presse hat inzwischen jedes erdenkliche Detail der erstaunlichen Karriere dieses Christian Karl G. ans Licht gezerrt.

Staatsanwälten bleibt die Spucke weg

Ein Bursche, der auf einer Bahnfahrt in Deutschland eine US-Familie kennenlernte und plötzlich unangekündigt bei ihr in Connecticut auf der Schwelle stand. Der sich später mit einer Heirat eine Greencard erschlich, um dann die sogenannten besseren Kreise zwischen Los Angeles und Boston zu täuschen. 28 Jahre lang, "der längste Schwindel, den ich in meiner Laufbahn erlebt habe", wie der zuständige Bostoner Staatsanwalt versicherte.

Seine wichtigsten Rollen waren: Manager mehrerer Finanzunternehmen an der Wall Street und Händler von Firmenanleihen in Höhe von einer Viertelmilliarde Dollar. Sohn des Hollywood-Kinderstars Anne Carter. Ehemann einer Havard-Absolventin, die zur Wirtschaftsberaterin von New Yorks Bürgermeister Bloomberg aufstieg. Bewohner einer 2,7 Millionen-Villa und Nachbar von Ex-Präsidentschaftskandidat John Kerry in Boston.

Wall Street, Havard, Hollywood - Herbert Willinger schüttelt bei der Auflistung dieser Orte immer noch den Kopf, obwohl er das alles schon kennt. Die New York Times, der Boston Herald und "ich weiß nicht, wer alles" waren ja hier in Bergen, um jeden Vorgarten und jedes Geschäft im Heimatort von Christian G. abzuklappern und sich im "Gasthaus zur Post" am Stammtisch umzuhören.

"Ein Tüftler, rhethorisch brillant"

Nun sitzt Herbert Willinger also wieder an seinem Küchentisch mit Blick auf die Chiemgauer Berge und soll erzählen, wie es war, damals mit dem Christian befreundet gewesen zu sein - "mein Gott, das ist ja mehr als 30 Jahre her." Und nur im Nachhinein erscheint vieles logisch. Dass der Christian ein Tüftler war und rhethorisch brillant. Dass er schon früh alle Klassiker gelesen hatte und immer im Mittelpunkt stehen wollte. "Heute könnt ihr was erleben", hat er den Mitschülern dann zugerufen - und die Lehrerin vorgeführt, bis sie aus der Klasse rannte.

Aber was sage das schon über einen aus?, fragt Willinger. Er ist da gespalten. "Weil ich dem Christian das Chamäleonhafte absolut zutraue, aber Mord? Nein!" - "Nie im Leben!", ruft auch Willingers Ehefrau Irene aus der Küche. "Der Krischa war nie brutal!" Dann hackt sie ihr riesiges Messer in den Weißkohl.

Blutspuren und Kettensägen

Das Verbrechen, das die US-Behörden Christian G. anlasten könnten, liegt fast ein Vierteljahrhundert zurück. 1985 verschwand das Ehepaar John und Linda Sohus aus San Marino bei Los Angeles. Spurlos und ohne Abschied.

Johns Mutter, eine kontaktarme Alkoholikerin, meldete sich erst fünf Monate später bei der Polizei. Ihr Sohn und ihre Schwiegertochter hätten gesagt, sie müssten für einen Geheimauftrag der Regierung ins Ausland gehen. Sie hätten noch zwei Postkarten aus Paris geschrieben. "Kontaktmann" des Paares sei ihr Untermieter, ein gewisser Christopher Chichester, der seltsamerweise zeitgleich mit beiden verschwunden sei.

Christian G. hat im Interview mit dem Sender NBC zugegeben, unter dem Namen Christopher Chichester in San Marino gelebt zu haben. Chichester hatte sich damals im Ort als Filmwissenschaftler ausgegeben, war Rotariermitglied und angeblich Verwandter des britischen Königshauses. Im selben NBC-Interview sagte Christian G. noch, dass er niemals irgendjemandem etwas zuleide getan hätte. Ja, dass er Gewalt verabscheue.

Die männliche Leiche, die man 1994 im Garten der Familie Sohus bei Bauarbeiten fand, war auf drei Plastiksäcke verteilt. Nun wollten sich Nachbarn von Christopher Chichester plötzlich daran erinnern, dass John Sohus dessen Identität angezweifelt hatte. Und dass Chichester sich etwa zu der Zeit, als das Ehepaar Sohus verschwand, eine Kettensäge ausgeliehen hatte. Und dass damals der Garten umgegraben war. Wegen eines Rohrbruches, wie er erklärt haben soll.

Genug Beweise für eine Mordanklage?

Die Polizei sicherte Blutspuren im früheren Zimmer von Chichester. Und sie fand heraus, dass Christian G. 1988 unter falschem Namen versucht hatte, den Pick-up-Truck der Sohus' in Connecticut zu verkaufen.

Was der Polizei aber fehlt, ist eine Zuordnung der Spuren. Sie kann noch nicht beweisen, zu wem die menschlichen Überreste und Blutspuren gehören. Denn John Sohus war ein Adoptivkind, Verwandte für einen DNS-Abgleich gibt es nicht, und von Linda Sohus fehlt weiter jede Spur. Es werde länger dauern als gewöhnlich, aber sie sei trotzdem optimistisch, dass man John Sohus' Leiche identifizieren werde, sagt Detective Dolores Scott von der Mordkommission in Los Angeles der SZ. "Wir sind zuversichtlich, dass die Beweise am Ende für eine Mordanklage ausreichen." Die Stimme von Detective Scott klingt dabei etwas unsicher.

Martha Henry sagt, dass sie der Gedanke krank mache, dass Christian G. in einen Mord verwickelt sein könnte. Weil sie nicht glauben wolle, dass sie sich in dem sanften Sonderling, der als Clark Rockefeller in New York jahrelang mit ihr auf einer Etage wohnte, getäuscht haben könnte. Dass womöglich ein Doppelmörder an ihrer Tür klingelte und sagte: "Schau Martha, ich habe Brot für dich gebacken." Das sei so eine Marotte von ihm gewesen: Nachbarschaftspflege in New York, 57. Straße. "Wer macht hier denn sowas?"

Ein bisschen blenden in der Galerie

Henry ist Kunsthändlerin und ließ sich von Clark Rockefeller, damals angeblich IT-Spezialist, manchmal am Computer helfen. Dafür sah sie sich die Bilder des selbsterklärten Sammlers an. Einen Mondrian hatte er mal hängen, einen Pollock auch. Martha Henry findet, dass ein Bluff nicht schwer sei. Man blendet in einer Galerie mit der Visitenkarte und leiht sich ein Gemälde aus - "zur Probe".

Dann schmeißt man eine Cocktailparty und gibt das Bild später als unpassend zurück. "Warum hätten seine Freunde ihn anzweifeln sollen?", fragt die Kunsthändlerin. Clarks Geschichten gut recherchiert gewesen. "Ein Schwiegermuttertyp", der nur in den besten Clubs verkehrte, sich bei lästigen Fragen hinter seinen Neurosen verschanzte und in den Gottesdiensten an der Fifth Avenue die Damen charmierte.

So lernte er Mitte der Neunziger auch seine Frau Sandra kennen. Eine Harvard-Karrieristin, die ihm sein Leben finanzierte und jahrelang nichts bemerkt haben will. Bis sie einen Detektiv auf ihn ansetzte und ihm für 800.000 Dollar das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter abhandelte.

Im Chiemgau fragt keiner mehr nach ihm

Im Prozess wird sie sich erstmals äußern. Bis dahin dürfte Christian G. von seinen Anwälten auf seine letzte große Rolle eingeschworen worden sein: die des verzweifelten Vaters, dem seine Tochter genommen wurde. Er gibt vor, seine Erinnerung verloren zu haben; seine Anwälte wollen ihn für unzurechnungsfähig erklären lassen. Im NBC-Interview erklärte Christian G. schon vor neun Monaten, dass er kein Deutsch spreche und seine einzige Kindheitserinnerung "Erdbeerpflücken in Oregon" sei.

Seine Anwälte gehen von Freispruch aus. Und einige Ermittler halten eine Abschiebung für möglich. Dann würde für Clark Rockefeller alias Christian Karl G. alles dort enden, wo es begann. In Bergen im Chiemgau, wo er sich Mitte der Achtziger ein letztes Mal telefonisch gemeldet hat. Wo seine Mutter dachte, er sei tot. Und wo die Nachbarn längst aufgehört haben, nach ihm zu fragen.

© SZ vom 26.05.2009/ojo - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: