Essay aus dem SZ-Rückblick:Was noch zu sagen wäre

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Das Jahr als Symphonie - schnell vergangen und dennoch als gewaltig organisierter Lärm in Erinnerung. Eines der Hauptmotive in Moll: Das Atomthema.

Hermann Unterstöger

Natürlich ist ein Jahr keine Symphonie, das fehlte gerade noch. Da es aber, ganz wie die Musik, so etwas wie gestaltete Zeit ist, darf es sehr wohl mit einer Symphonie verglichen werden. Sagt nicht schon der Volksmund: "Ach herrje, dieses Jahr ist vielleicht wieder vorübergerauscht!", ein Wort, das man oft auch von Konzertbesuchern hören kann, denen eine Symphonie einerseits zu schnell verging und andererseits doch als gewaltiger organisierter Lärm im Gedächtnis geblieben ist. Unter diesem Aspekt wollen wir das Jahr 2006 hier als symphonisches Gebilde kritisch besprechen.

Zunächst von Iran intoniert, dann von Indien und Nordkorea aufgegriffen: das Atommotiv. (Foto: Foto: dpa)

Wie bei allen Jahren handelt es sich auch bei 2006 um ein anonymes Werk. Unter Kreationisten gilt Gott als der Komponist, wohingegen die Evolutionisten jedes Jahr als stofflich stets gleiches, klanglich jedoch stets unterschiedliches Echo des Urknalls auffassen. Der Kunstfreund kann beides akzeptieren, weil es ihm auf die künstlerische Vielfalt ankommt. In grauer Vorzeit sollen die Jahre viersätzig gewesen sein, doch kann das heute niemand mehr verifizieren.

Seit Menschengedenken haben wir es mit durchkomponierten Symphonien zu tun, was den meisten so wenig bekommt wie Wagner-Opern. Der Kenner freilich hat seine Freude an diesem Fließen und Wabern, und anhand der Leitmotive kann er oft schon im September oder Oktober sagen, wie das Jahr war und ob es dafürsteht, sich auch den Rest anzutun.

Zur Stunde ist die Aufführung noch im Gange, sodass man nicht sagen kann, ob die Motive, die bisher anklangen, bis zum Jahresende durchgehalten werden. Um ein Beispiel zu nennen: Eines der Hauptmotive, in seiner Düsternis dem Hunding-Motiv aus dem "Ring" zu vergleichen, war 2006 das Atom-Motiv, das die iranische Regierung bereits im Januar intonierte und mit Änderungen immer wieder anschlug. Anfang Februar nahm es die Atomenergiebehörde auf, in deutlicher Moll-Eintrübung, und wenig später erklang es in Indien, wo ein Atomabkommen geschlossen wurde.

Das war's dann wohl, sagten die Insider, doch hatten sie die Rechnung ohne den klug disponierenden Komponisten gemacht, der das Atomthema im Oktober von neuem aufnahm, diesmal aus Nordkorea und in einer Verfremdung, die man für exotisch hätte halten können, wäre sie nicht so grausig gewesen. Ob da noch was nachkommt?

Mit ähnlich langem Atem wurden einige andere Themen durchgehalten, das vom Gammelfleisch etwa oder das vom Stellenabbau. Letzteres kam meist von den Trompeten und wurde gerade dadurch in seiner ganzen Jämmerlichkeit ausgestellt, ein Instrumentationswitz, den nicht jeder goutierte. Was jedoch fast allen zusagte, waren die feierlichen Strecken im Juni/Juli und September, also Fußball-WM und Papstbesuch: fast Bruckner'sche Klangballungen in C- und Es-Dur, deren altertümelnde Tonalität innerhalb eines weithin atonalen Jahreslaufs zwar verwunderte, aber als grundsätzlich angenehm verbucht wurde.

Davon abgesehen neigte der Komponist dazu, sich zu verzetteln, man kennt das aus früheren Jahren. Was hätte man aus der Vogelgrippe, den Mohammed-Karikaturen oder dem Ärztestreik nicht noch alles machen können! Das meiste davon blieb, wie Braunbär "Bruno", leider auf der Strecke, und wahrscheinlich wird nicht einmal der Stromausfall vom 4. November, ein an sich hinreißender Ansatz, nächstes Jahr den Geburtenboom bringen, den man nach allen Regeln der Kunst von ihm verlangen kann.

Der Beifall wird also an Silvester wieder einmal "endenwollend" sein.

© Diesen Text und andere Essays finden Sie in der Sonderausgabe der <i>Süddeutschen Zeitung </i>zum Jahr 2006. Der Jahresrückblick ist vom 9. Dezember an im Handel erhältlich, der Preis beträgt fünf Euro. - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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