Erziehung:Wenn Eltern (sich) aufgeben

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Sprachlos, bewegungsarm, verhaltensauffällig - die Zahl der verwahrlosten Kinder in Deutschland steigt. Fachleute fordern, Untersuchungen beim Kinderarzt zur Pflicht zu machen.

Cathrin Kahlweit

Immer wieder erhält die Münchner Polizei Hinweise auf Kindes-Misshandlungen: Schütteltraumata, Verbrennungen, Brüche, blaue Flecken - das ist trauriger Alltag in Deutschland. Wenn die Beamten dann die Wohnungen durchsuchen, in denen diese Kinder leben, finden sie nicht selten schockierende Zustände vor: Dreck, Gestank, leere Kühlschränke, halbnackte, mangelernährte Kinder, desinteressierte, apathische Eltern.

Für manche Kinder ist Fernsehen die einzige Freizeitbeschäftigung - Essen inklusive (Foto: Foto: ddp)

Extremfälle wie jene in Hamburg, wo schwer verwahrloste Kinder, die zwischen Exkrementen oder in Kellern lebten, regelrecht aus ihren Familien gerettet werden mussten, seien zwar eine Seltenheit, sagt Rudolf Wagner. Er leitet in München das Dezernat 123, das sich unter anderem mit Fällen von Misshandlung Schutzbefohlener befasst.

Aber er sagt auch: "Zufallsergebnisse dieser Art gibt es bei unseren Einsätzen immer wieder. Man kann nicht hinter Mauern schauen, sonst würden solche Kindesmisshandlungen häufiger aufgedeckt." Auch die Polizei kann nicht durch Mauern schauen. Aber sie kann sich, anders als Jugend- und Sozialämter, im Zweifel leichter Zutritt zu einer Wohnung verschaffen, in der vernachlässigte Kinder und überforderte Eltern vermutet werden.

Die Jugendämter, die in der Folge der Hamburger Ereignisse erneut in die Kritik geraten sind, müssen zwangsläufig auf Kooperation mit den Betroffenen setzen - aber was sollen sie tun, wenn diese ihre Türen verschließen und nicht mit den Behörden reden?

69 Prozent verarmte Kinder mehr seit Hartz IV

Nach Schätzungen von Experten, melden die Presse-Agenturen, lebten in Deutschland mehrere zehntausend Kinder, die völlig verwahrlost seien, weil sich die Eltern nicht um sie kümmerten. Solche Schätzungen sind kühn, ist doch die Dunkelziffer so unbekannt wie mutmaßlich hoch.

Und wer wollte definieren, wo Verwahrlosung beginnt? Der Kinderschutzbund warnt davor, das Phänomen nur bei sozial schwachen Familien zu suchen - es gebe auch die so genannte Wohlstandsverwahrlosung. Indes: Meist handelt es sich bei jenen Familien, die wegen Kindesvernachlässigung ins Visier der Behörden geraten, um Problemfamilien, in denen Arbeitslosigkeit, räumliche Enge, Alkoholismus, Gewalterfahrungen und Isolation eine Rolle spielen.

Armut ist, wie sollte es anders sein, ein wesentlicher Faktor, wenn Eltern sich so überfordert fühlen von ihren Lebensumständen, dass ihre Kinder leiden. Katharina Adelmann-Vollmer, Fachreferentin beim Kinderschutzbund, verweist darauf, dass die Zahl der Kinder, die in Deutschland in Armut lebten, sich allein mit Hartz IV in den ersten acht Monaten dieses Jahres um 69 Prozent auf knapp zwei Millionen erhöht habe.

Sie definiert Verwahrlosung als "Zusammenbruch, als Aufgabe von Versorgung und Fürsorglichkeit. Und die stelle sich zunehmend ein, wenn Familien verarmen und sich aufgeben." Die Berliner Kinderärztin Elke Jäger-Roman, die auch im Vorstand des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte sitzt, hat die Erfahrung gemacht, dass Verwahrlosung und Vernachlässigung schleichend zunehmen: "Bei etwa 20 Prozent der Bevölkerung stellen wir fest, dass das Verständnis der Eltern für das, was ihre Kinder brauchen, nicht mehr da ist."

Es gebe erstaunlich viele Zwei- oder Dreijährige, die kein Wort sprächen, die jeden Tag stundenlang vor dem Fernseher geparkt und mit Fertigessen und Süßem voll gestopft würden. "Die Eltern sprechen nicht mit diesen Kindern."

Kinderärzte warnen daher vor zunehmenden Entwicklungsstörungen, vor Fettsucht und Bewegungsmangel, vor Verhaltensauffälligkeiten und Sprachstörungen. Und sie diskutieren, was in anderen europäischen Ländern in Form von Reihenuntersuchungen bereits Pflicht ist: die kinderärztlichen Untersuchungen, genannt U1 bis U9, verpflichtend zu machen, kontrolliert vom öffentlichen Gesundheitswesen.

Elke Roman-Jäger berichtet, dass etwa 30 Prozent aller Eltern ihre Kinder nach den ersten Lebensjahren nicht mehr zu jenen Vorsorgeuntersuchung brächten; doch gerade dort könnten Entwicklungsstörungen festgestellt, Verwahrlosungstendenzen und Misshandlungen belegt werden. "Es gibt eine Lücke bis zum Schuleintritt", warnt auch der Münchner Polizist Rudolf Wagner: "Wenn man erst bei der Einschulung feststellt, dass Kinder vernachlässigt werden, ist es oft zu spät."

© SZ vom 10.11.05 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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