Stadtarchäologie in Amsterdam:"Der Müll ist in dem Fall ein Schatz"

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Handys, Filme, Siegelstempel: Jerzy Gawronski hat während der Grabungen des Amsterdamer U-Bahn-Tunnels Tausende Fundstücke aus dem Schlamm der Amstel gefischt.

Interview von Marie Schiller

15 Jahre lang wurde im Amsterdamer Untergrund ein neuer U-Bahn-Tunnel gegraben, quer durch die Stadt, von Norden nach Süden. Gut für die Pendler - und gut für den Stadtarchäologen Jerzy Gawronski, der die Baustelle wissenschaftlich beackerte. Als besonders ergiebig erwies sich das Flussbett der Amstel, das von der neuen Strecke durchquert wird. Gawronski und sein Team fanden darin eine schier unglaubliche Zahl an Gegenständen.

SZ: Herr Gawronski, Sie haben 700 000 Fundstücke ausgebuddelt. Was ist Ihr Lieblingsteil?

Jerzy Gawronski: Wissen Sie, wenn ich als Archäologe in einer Ausgrabung so viele Gegenstände finde, ist es wirklich schwer, einen Favoriten zu nennen. Für mich ist das Besondere an diesem Projekt die Vielfalt aller Objekte. Sie erzählen eine Geschichte der Stadt Amsterdam - von den frühen Anfängen bis heute. Das ist für mich die größte Entdeckung.

Aber wenn Sie ein Stück auswählen müssten.

.. In Ordnung, ich nenne Ihnen ein Beispiel. Wir haben einen kleinen Siegelstempel gefunden. Darauf war eine männliche Büste eingraviert und Buchstaben rundherum: "Daniel O'Connell". Er war ein irischen Politiker aus den frühen 1820ern, ein guter Mann, ein Befreier, der für die Rechte der armen Katholiken kämpfte.

Jerzy Gawronski, Jahrgang 1955, ist Professor für Archäologie an der Universität Amsterdam. Er hat das Amstel-Projekt geleitet und stand selbst viele Stunden im Flussbett, um Tausende Fundstücke aus dem Schlamm zu fischen. (Foto: oh)

Aber was Sie dort unten gefunden haben, ist doch eigentlich Müll.

Richtig. Es ist Müll, den die Leute weggeschmissen haben. Aber der Müll ist in dem Fall ein Schatz - natürlich kein Schatz wie zum Beispiel Gold, aber jeder Gegenstand öffnet ein kleines Fenster in die Vergangenheit und gibt uns die Möglichkeit, die Geschichte mit neuen Augen zu sehen. Für mich sind die Alltagsgegenstände, die im Haushalt oder auf der Arbeit benutzt wurden, besonders wertvoll. Wir haben sogar prähistorische Stücke wie Zähne oder Scherben von 2500 vor Christus gefunden.

Was passiert jetzt mit den Fundstücken?

Wir haben zwei Schaukästen in der Metrostation Rokin, wo 10 000 Fundstücke gezeigt werden. Der Rest wird für Museenoder für Universitäten zu Forschungszwecken gelagert.

Wie sind Sie an das Projekt herangegangen?

Unser Ziel war es, die Bergung der historischen Stücke in das technische Projekt des Metrobaus zu integrieren. Flüsse, Kanäle und Seen hatten schon immer eine gewisse Anziehungskraft für Menschen auf der ganzen Welt. Sie haben ihren Müll dort hineingeworfen, weil er dann einfach weg war. Also haben wir vermutet, dass mitten in der Stadt viele Dinge im Flussbett begraben sein könnten. Diese Vermutung hat sich als wahr herausgestellt. Aber die Anzahl der Funde war überwältigend und viel höher, als wir erwartet haben.

Ingenieure, die einen Tunnel bohren wollen, und Archäologen an einem Ort - kann das funktionieren?

Es ist Teamwork. Wir mussten unsere Arbeit in die der Ingenieure einbauen. Es gibt keine Anleitung, wie man in einem Fluss archäologisch gräbt. Dann hatten wir noch den Druck des Metrobaus. Manchmal haben wir wie bei einer militärischen Operation gearbeitet: von sieben Uhr morgens bis Mitternacht, mit hundert Menschen - Archäologen, Studenten, Freiwilligen. Wir sind eine große Familie geworden.

© SZ vom 19.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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