Ehrenmord-Prozess:Aus der Welt geschafft

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Hatun Sürücü wollte ihr eigenes Leben und endete tot auf dem Straßenpflaster mitten in Berlin - der Prozess führt in die Abgründe einer türkischen Familie.

Constanze von Bullion

Vielleicht hat er gehofft, sein Held könnte ihn noch retten. In letzter Sekunde, wie das in Filmen immer so ist.

Die Zeichnung zeigt die wegen Mordes angeklagten Brüder Mütlü (von li.), Alpaslan und Ayhan Sürücü in einem Saal des Kriminalgerichts Berlin-Moabit. (Foto: Foto: dpa)

Als es kracht jedenfalls und fremde Leute in sein Schlafzimmer kommen, da hält er sich an seinem Spiderman fest, an diesem Supermann, der Gangster bekämpft und immer das Gute siegen lässt. Spiderman aber schafft es nicht in dieser Nacht. Diesmal versagen seine Kräfte.

Can Sürücü ist fünf Jahre alt und sitzt mit seinem Spielzeughelden im Kinderbett, als Polizisten die Wohnungstür öffnen und die Wirklichkeit einbricht in seine Welt.

"Wo ist Mama?"

Jemand zieht ihn an und bringt ihn weg, zu Pflegeeltern. "Wo ist Mama?", soll der Kleine gefragt haben, aber es hat wohl keiner so direkt geantwortet.

Weil Mama da schon draußen auf der Straße liegt. In einer Hand hält sie eine verglimmte Zigarette. Der Kaffeebecher ist ihr aufs Pflaster gefallen. Aus ihrem Kopf läuft Blut.

Zwei Kugeln haben ihr das Gesicht zerrissen, die dritte hat den Schädel am rechten Ohr durchschlagen. Die Projektile haben sie aus nächster Nähe getroffen, und das letzte Geschoss vermutlich, als sie schon am Boden lag.

Hatun Sürücü wurde am 7.Februar 2005 an einer Berliner Bushaltestelle ermordet. Eine Tat war das, als hätte da jemand das Drehbuch eines Thrillers mal eben in die Tat umgesetzt.

Und weil diese bedrohliche Inszenierung wirkte, als sei ein Exempel statuiert worden an einer ungehorsamen Frau, hat dieser "Ehrenmord" viele verstört, die sich sonst wenig dafür interessieren, in welchem Film die Töchter und Söhne ihrer muslimischen Nachbarn eigentlich so unterwegs sind.

Der Kampfgeist scheint erloschen

Landgericht Berlin, Saal 700, hinter einer Balustrade aus gedrechseltem Holz steht ein Hochsicherheitskasten aus Panzerglas. Drei junge Männer spähen durch die Scheibe, ihre Gesichter sind fahl, der Kampfgeist scheint erloschen zu sein.

Ein gutes Jahr dauert das Verfahren um die Ermordung von Hatun Sürücü nun, am Donnerstag soll ein Urteil fallen, nun haben die Angeklagten das letzte Wort.

Als Erster steht Alpaslan Sürücü auf, der mit den zwei Gesichtern, er spricht heute leise und mit weicher Stimme. "Wenn ein Mensch einen Menschen umbringt, dann verdient er meine große Verachtung", sagt er.

Dann erhebt sich Ayhan, der Kleine. "Ich bedauere die Tat. Ich wünschte, sie wäre nicht geschehen." Mutlu, der Fromme, steht nicht mal auf für seine Erklärung. Er ist "sehr sauer" auf die Presse, murmelt er. Und dass es Leute gibt da draußen, die das Verhalten von Aynur "missbilligen".

In der Schurkenrolle

Aynur, Mondstrahl. So haben sie ihre Schwester Hatun genannt, ehe sie in einer Februarnacht sterben musste, mit 23 Jahren. Eine "Hinrichtung" nannte der Staatsanwalt den Mord, der "eiskalt geplant" worden sei von drei Brüdern, die nicht klarkamen mit dem Leben der Schwester.

Ayhan, damals 18,hat die Tat zugegeben, die Anklage fordert knapp zehn Jahre Jugendhaft. Seine großen Brüder sollen lebenslang hinter Gitter: Alpaslan, der 24 war und den Mord überwacht haben soll. Und Mutlu, der 25 war und angeblich die Waffe besorgt hat.

Höchststrafe hieße das, doch ob die Älteren wirklich Lebenslang kriegen, bleibt ungewiss bis zuletzt. Alpaslan und Mutlu bestreiten, etwas geahnt zu haben von der Tat.

Und weil keines ihrer Geschwister aussagt und das Gericht oft mit schläfriger Distanziertheit agiert, dringt die Wahrheit nur widerwillig ans Licht bei diesem Prozess, der wirkt, als müssten ein paar Leute wachgerüttelt werden.

Sie nannten sie Aynur, Mondstrahl: Die ermordete Hatun Sürücü. (Foto: Foto: ddp)

Er will ein Mafiosi sein, er trifft radikale Islamisten

Ayhan, der Jüngste und Schütze, ist so ein Typ, der offenbar glaubt, in Hollywood unterwegs zu sein. Er spielt im Gerichtssaal die Schurkenrolle, will seine Schwester ganz allein getötet haben, und wer ihm nicht glaubt, den schreit er an.

Ayhan ist der kleinste der drei Brüder, ein schmaler Kerl mit dünnen Nerven, der sich in Szene zu setzen weiß. Oft lacht er Zeugen aus, schreit, mault das Gericht an. Mitleid mit seinem Opfer zeigt er nie.

Ayhan tritt gern bei Boxkämpfen an, aber da wird er dauernd verdroschen, erzählt ein Freund. Ayhan will kein Verlierer sein, aber seine kaufmännische Ausbildung bricht er ab. Also nennt er sich Carlito, nach dem Film, in dem Al Pacino einen Mafioso spielt.

Er treibt sich bei radikalen Muslimen herum, posiert mal mit martialischen Spielzeugwaffen und inszeniert sich eine Erlebnislandschaft, in der es um Kampf geht, um Moral und Tod.

Ihr Zuhause zwischen Dealern und Junkies

Und eines Tages kauft so einer eine echte Pistole und erschießt seine Schwester? Die Verteidigung müht sich, das Bild eines verirrten Alleintäters zu zeichnen. Sie verweist auf ein psychiatrisches Gutachten, wonach Ayhan sich "überhöht und überschätzt".

Er ist der letzte Sohn, der bei den Eltern wohnt, der Vater ist alt und oft in der Türkei, Ayhan vertritt ihn bei den Lehrern seiner Schwestern, will zu Hause Bestimmer sein. Was aber hat diesen Wichtigtuer zum Killer gemacht?

Der U-Bahnhof Kottbusser Tor ist ein Ort, an dem niemand lange bleibt, der nicht unbedingt muss. Hier stehen trostlose Gestalten, Dealer und Junkies, und nur ein paar Schritte entfernt liegt die Wohnung der Familie Sürücü.

Elf Menschen haben sich hier vier Zimmer geteilt, Männer und Frauen essen und beten getrennt. Kommt ein unverheiratetes Mädchen, wird es vor Männerblicken abgeschirmt.

Die Sürücüs sind sunnitische Kurden aus dem Osten Anatoliens. Der Vater arbeitete als Bäcker in Berlin und hat seine neun Kinder in strenger Frömmigkeit erzogen, doch ist die Frage aufgetaucht, ob es immer so züchtig zuging.

Missbrauch in der Familie

Oder ob die Mauer zwischen den Geschlechtern errichtet wurde, weil es Dinge gab, die es nicht hätte geben dürfen.

Gülsah S. ist eine ängstliche Zeugin, als die junge Frau vor dem Richter sitzt, da weint sie und fleht, gehen zu dürfen. "Ich hab' Angst! Ich hab' ein achtjähriges Kind!" Gülsah war gut befreundet mit Hatun Sürücü und wusste vom Kummer mit den Eltern.

Die hatten sie mit 16 Jahren vom Gymnasium genommen und mit einem Cousin in der Türkei verheiratet. Er soll sie geschlagen haben, da ließ sie ihn sitzen, kam schwanger zurück, zog ihren Sohn Can allein groß, und mit wem sie schlief, entschied sie selbst. Aus der Familie hat man sie dafür verbannt.

Hatun Sürücü war intelligent und konnte kämpfen, sagen Zeugen, aber fiel oft in Depression. Manchmal tauchte sie tagelang weg und mit zerschlagenem Gesicht wieder auf. Todesängste habe sie gehabt vor den Brüdern, sagt Gülsah S., und da soll noch etwas gewesen sein.

Ein Bruder habe sie vor Jahren "angetatscht". Welcher, fragt der Richter, da weint sie wieder. Alpaslan, sagt sie schließlich. Leise, als dürfe es keiner hören.

Er wirkt nett, doch dann...

Vier Zeugen berichten von sexuellem Missbrauch, es bleibt aber unklar, um welchen Bruder es sich handeln soll. Eine Sozialarbeiterin, die Hatun betreute, nennt Mutlu. Hatuns letzter Freund sagt, die ganze Familie habe es gewusst.

Eine Sozialpädagogin, die Hatun bei ihrer Elektrikerlehre betreute, bemerkte noch etwas: ihr "distanzloses Verhalten gegenüber jungen und älteren Männern". So ein sexualisiertes Verhalten gehört zu den typischen Symptomen eines Missbrauchs, also nahm sie an, dass da was war.

Wenn das stimmt, musste Hatun Sürücü nicht sterben, weil sie Schande über die Familie brachte. Sondern weil mit ihr die Schande eines Bruders aus der Welt geschafft werden sollte.

Vor Gericht aber bleibt es bei Vermutungen. Schon möglich, dass es da mal ein "Ereignis" gab, ein "Missverständnis unter Pubertanden", sagt Matthias Kock, der Alpaslan Sürücü verteidigt.

Geheimnisvolle Losung

Als Tatmotiv für seinen Mandanten aber scheide die Sache aus. Alpaslan sei seine Schwester egal gewesen, auch ihr Tod lasse ihn kalt, "da war seit Jahren Funkstille".

"Alpi", der mittlere Bruder, das ist so einer, der auf den ersten Blick ganz nett aussieht, er hat eine Frau ohne Kopftuch und wirkt intelligenter als seine Brüder. Seine Gemütslagen aber können blitzschnell kippen, dann brüllt er los, ohrfeigt die Luft, bedroht Zeugen, immer sind es Frauen.

In der Haft, sagt ein Mithäftling, weint Alpaslan. Vielleicht, weil er zu Unrecht beschuldigt wird, in der Mordnacht Schmiere gestanden zu haben. Oder weil die Wirklichkeit sich leise in seine Zelle geschlichen hat.

Melek heißt "Engel", aber wenn Melek A. im Gericht erscheint, ist es, als tauchte ein Geist aus einer Gruft. Eine zarte, hübsche Person steigt dann aus einem Kellerraum, in schusssicherer Weste und unter Polizeischutz. Melek A. ist 18 Jahre alt und lebt im Zeugenschutzprogramm an einem geheimen Ort, sie ist eine Gefangene und könnte lange eine bleiben.

Melek A. ist die Kronzeugin, weil sie mit Ayhan zusammen war und er ihr verraten haben soll, wer Regie führte bei dem Mord. Melek kommt aus einer liberalen türkischen Familie, sie ist behütet und gut in der Schule - und sucht. Nach Gott, und einem, der Bescheid weiß.

Mutlu, der Düstere

Ayhan erzählt ihr im Kino von einer "Last" auf seinen Schultern. Seine Schwester lebe nicht nach dem Islam, sie sei eine Hure, er müsse sie töten. Sie habe das nicht ernst genommen, sagt Melek vor Gericht, aber bald mitgekriegt, dass in Ayhans Filmen keine Witze vorgesehen waren.

Die Zeugin spricht ruhig, mit klarer Stimme, sie wirkt glaubwürdig und unglücklich, als müsste sie etwas in Ordnung bringen. Schon vor der Tat soll Ayhan ihr von einem Treffen mit Alpaslan und Mutlu erzählt haben. Die Tötung der Schwester hätten sie besprochen.

Und wenn stimmt, was sie erfahren haben will, war Ayhan wütend, weil Hatun bei der Mutter gewesen war und öfter kommen wollte. Mutlu habe gedrängt, Alpaslan gezögert - und dann zugestimmt mit einem Satz, den Melek nicht verstand. "Die Schlacht möge gesegnet sein."

Es sind religiös aufgeladene Marschbefehle und geheimnisvolle Losungen, die da kolportiert werden, und sie klingen nicht nach der Sprache der Kreuzberger Hinterhöfe.

Wer ihre Quelle sucht, landet irgendwann bei Mutlu, dem Ältesten der drei Brüder. Er trägt zum Bart lange Hemden und eine düstere Miene, was manche dazu verführt hat, ihm die Rolle des finsteren Paten zuzuweisen.

Der überforderte Richter

Es gibt spärliche Hinweise auf Mutlus Rolle. Der Dokumentarfilmer Gert Monheim hat Mutlus Spur in eine Berliner Moschee verfolgt, in der sich Islamisten treffen.

Mutlu sei "besessen religiös", sagt Monheim, er sei in Pakistan und Leeds gewesen, wo das Attentat auf die Londoner U-Bahn geplant wurde. In Berlin, berichtet Melek, habe Mutlu die Waffe beschafft und den Segen eines Geistlichen eingeholt.

Der Staatsanwalt glaubt, dass es so war, ohne die Spur in die Moscheen deshalb weiter zu verfolgen. Überhaupt fällt er mit eher bescheidenem Wissen auf. Was ein Hodscha ist, fragt er, und wie man dieses seltsame Wort schreibe.

Auch der Vorsitzende Richter, der kurz vor der Pensionierung steht, wirkt manchmal überfordert, lässt die Angeklagten schwatzen und toben, guckt weg, als an einem Gerichtstag ohne Panzerglas-Absperrung ein Kumpel Ayhans kommt, ihn küsst und die Brüder abklatscht wie Helden, bevor er sich auf einen Stuhl lümmelt, und - "kann sein", "weiß nicht" - eine Aussage hinrotzt.

Vielleicht fehlt es an Mut, vielleicht an Interesse, solchen Jungs mal klar zu machen, dass das hier ein Gericht ist und keine Gerichtsserie. Eine Chance hätte das sein können, Wörter wie "Respekt" und "Ehre" mit neuen Inhalten zu füllen.

Tausend wertlose Details

Melek A., die Kronzeugin, die mit ihrer Aussage alles riskiert hat, wirkt verlassen vor dieser unbekümmerten Kulisse. Sie heult, als die Verteidigung sie jagt, zurück zum Abend der Tat, an dem Ayhan zu ihr kam, ganz schwarz gekleidet wie Zorro.

Er habe ihr seinen Geldbeutel übergeben, sagt sie, und sei dann los, um Alpaslan zu treffen. Der habe in der Nähe gewartet, als Ayhan schoss. Stimmt nicht, sagt Alpaslan, er habe zur Tatzeit mit seiner Frau zu Abend gegessen.

Ans Essen, die Kleider, tausend Details kann Alpaslans Frau sich erinnern, und das Alibi, das sie ihm liefert, wirkt fast perfekt.

Als aber Verhörprotokolle bei ihr gefunden werden, die sie gar nicht kennen darf, wird klar: Hier konnten Aussagen abgesprochen werden. Alpaslans Alibi ist quasi wertlos geworden.

Eine goldene Uhr als Geschenk

Aber auch Melek, der "Engel", gerät in Erklärungsnot, als die Verteidigung fragt, warum sie sich erst vor Gericht an ein wichtiges Detail erinnert. "Ich hab dir doch gesagt, schieß ihr in den Kopf", soll Alpaslan zu Ayhan gesagt haben, als die drei Brüder am Tag nach der Tat mit Melek U-Bahn fuhren.

So einen brutalen, unmissverständlichen Mordbefehl vergisst man doch nicht, sagt Alpaslans Anwalt. Im Plädoyer spricht er von einem "Schleier", der sich über die Aussage der Kronzeugin gelegt habe. Dass Melek sich alles nur ausgedacht hat, glauben aber weder der Verteidiger noch der Staatsanwalt.

Als der Vorhang zugeht am Berliner Landgericht, hat der Prozess zweifelsfreie Beweise für die Schuld der älteren Brüder nicht zutage gefördert. Aber der Verteidigung ist es auch nicht gelungen, sie überzeugend zu entlasten.

Ayhan lacht nicht mehr, als das Publikum sich erhebt und Saal 700 sich langsam leert. Als man ihn abführt, blitzt an seinem Arm die vergoldete Uhr, die sein Vater ihm geschenkt haben soll. Vier Tage, nachdem Hatun Sürücü starb.

© SZ vom 12.4.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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