Dresden: Der Prozess gegen den Vergewaltiger der 13-jährigen Stephanie:Die finsterste Seite der Sehnsucht

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Mario M. wollte ein Mädchen ganz für sich besitzen - im Gericht offenbart sich ein Mensch, der mit unvorstellbarer Brutalität nach Liebe verlangte.

Hans Holzhaider

Dresden, im Dezember - Wenn man nur tief genug gräbt, dann geht es immer um Liebe. Oder jedenfalls um das, was einer für Liebe hält. Bei Mario M.,36, muss man nicht einmal sehr tief graben. Die Sache liegt klar zutage. Das Wichtigste im Leben sei für ihn, nicht allein zu sein, hat er dem Psychiater Hans-Ludwig Kröber erzählt.

Er habe immer diesen Wunschtraum gehabt, seitdem er zwölf Jahre alt war. Er habe eine Insel gemalt, mit einem Haus drauf, und einem Mädchen, mit dem er befreundet war. So eine Insel hat den Vorteil, dass niemand fortlaufen kann und dass kein Fremder auftauchen kann, der einem etwas streitig macht. Oder, noch besser als eine Insel: einen eigenen Planeten für sich und das Mädchen.

Platz für fatale Ideen

So hat sich Mario M. das vorgestellt, aber die Wirklichkeit sah anders aus, damals, im Jahr 2002, ganz anders. Die Wirklichkeit war ein "besonders gesicherter Haftraum", abgekürzt "bgH", in der Justizvollzugsanstalt Bautzen. Mario M. saß dort eine Haftstrafe von drei Jahren und fünf Monaten ab, weil er am 1. Juli 1999 in seiner Wohnung in der Dresdener Hansastraße ein 14-jähriges Mädchen vergewaltigt hatte.

Das Mädchen hatte ein paar Mal seine Hunde ausgeführt, und er hatte sich eingebildet, sie wolle was von ihm, weil sie immer noch ein bisschen blieb, wenn sie die Hunde zurückbrachte. Dann wollte er sie küssen, aber sie wollte nicht. Aber da sei es schon zu spät gewesen, da habe er nicht mehr zurück gekonnt. Das sei so ähnlich wie bei seinen Hunden, vertraute Mario M. dem Psychiater an.

Wenn ein Hund nicht folgt, schimpfe er zuerst, und dann gerate er immer mehr in Rage, und dann verprügle er den Hund, obwohl er ihn doch eigentlich lieb habe, er könne dann einfach nicht mehr aufhören. Er habe dann auch keine Schuldgefühle, es sei eher so, dass er auf den Hund böse sei, weil der ihn dazu gebracht habe, so etwas zu tun. An dieser Stelle, berichtet der Psychiater, habe Mario M. Tränen in den Augen gehabt.

Beweise vom Band

Wegen der Sache mit dem Mädchen also war Mario M. jetzt im Knast, und dass er in einem bgH saß, hatte damit zu tun, dass er einmal morgens eine Viertelstunde lang mit den Fäusten gegen die Tür seiner Zelle getrommelt hatte.

Er hatte nämlich eine Vereinbarung mit den Aufsehern, dass er schon frühmorgens duschen durfte und nicht erst um zehn Uhr, wie die anderen Gefangenen, weil um zehn auf Super RTL immer "Clarissa" lief, eine Serie um die Alltags- und Liebesprobleme eines 15-jährigen Highschool-Mädchens. Kinder- und Teenie-Serien schaute sich Mario M. am liebsten an.

Die Welt der Erwachsenen sei so grausam, überall Krieg und Gewalt, das wolle er nicht sehen. Dann haben sie ihn nicht mehr morgens duschen lassen, und er hatte die Wahl - entweder "Clarissa" versäumen, oder gar nicht duschen, und deshalb hat er randaliert. Wenn er ungerecht behandelt wird, das lässt er sich nicht gefallen.

Eine verstörende Szene

Mario M. saß also nun in diesem besonders gesicherten Haftraum, ohne Fernsehen und mit nichts zu lesen als der Bibel, und da stiegen diese Gedanken in ihm auf. Wie es wäre, wenn er ein Mädchen ganz für sich alleine hätte. Eine, die ihm widerstands- und bedingungslos ergeben wäre.

Die er ganz und gar nach seinen eigenen Vorstellungen formen und erziehen könnte. Natürlich würde sie ihn lieben, vielleicht nicht gleich, aber irgendwann bestimmt. So entstand dieser Gedanke, der vier Jahre später in den spektakulärsten deutschen Kriminalfall des Jahres 2006 mündete. Der Gedanke blieb in seinem Kopf, als er im November 2002 nach Verbüßung von gut zwei Dritteln seiner Strafe entlassen wurde.

Er kaufte sich als erstes einen Hund und eine Katze. Dann war da ein Mädchen, das er von früher kannte. Jetzt war sie 15, und Mario M. hätte gern eine Beziehung zu ihr angefangen. Sie wollte aber nicht, sie fand ihn zu alt. Er schrieb ihr Liebesbriefe und Gedichte, machte eine CD mit Liedern für sie. Aber dann hatte sie einen anderen Freund, damit war die Sache für Mario M. erledigt. Ein Mädchen, das einen anderen Mann anschaut, kommt für ihn nicht in Frage, so hat er das immer mit Frauen gehalten.

Er fühlte sich sehr einsam. Einen Freund hatte er nicht. Er sei nicht interessiert an Freundschaften mit Männern, sagte M. zum Psychiater, schon als Kind sei das so gewesen. Er hatte niemanden außer seinen Hunden und den Kindersendungen. So eine Sendung habe den Anstoß gegeben, seine Phantasien aus dem Gefängnis umzusetzen.

Das war eine Folge aus der Serie "Unfabulous". Die Serie lief im Kinderkanal Nickelodeon, die Folge hieß "65 Liebeslieder" und handelte von einer Zwölfjährigen, die unglücklich verliebt ist und Lieder darüber singt. Das habe ihn sehr ergriffen, er habe dabei an sein eigenes Unglück denken müssen.

Das war am Sonntag, dem 8. Januar 2006. Drei Tage später entführte Mario M. in Dresden die 13-jährige Stephanie. Er lauerte ihr morgens auf dem Schulweg auf, zerrte sie in sein Auto, zwang sie, sich in eine Holzkiste zu hocken und schleppte sie mitsamt Kiste in seine Zwei-Zimmer-Wohnung im Dresdner Stadtteil Blasewitz.

Fünf Wochen lang hielt er sie dort gefangen, nahezu täglich vergewaltigte er das Mädchen, das aus schierer Angst alles mit sich geschehen ließ, und wäre Stephanie nicht so couragiert gewesen, während der nächtlichen Ausführungen, die Mario M. ihr gönnte, Zettel fallen zu lassen, auf denen sie verzweifelt um Hilfe flehte, dann weiß kein Mensch, wie lange das so gegangen wäre.

Ein Spaziergänger fand einen dieser Zettel und brachte ihn zur Polizei. Am 15. Februar ließ die Polizei M.'s Wohnungstür von einem Schlüsseldienst öffnen und befreite das Mädchen. Mario M. ließ sich widerstandslos festnehmen, das einzige, was er zu sagen hatte, war, dass man seinen Hunden nichts tun solle.

Ein Gewaltverbrechen lässt sich aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Für das Opfer und seine Angehörigen ist es eine Katastrophe, deren Folgen im schlimmsten Fall das ganze weitere Leben prägen. Aber es gibt auch andere Sichtweisen. Für eine bestimmte Art von Medien ist ein spektakuläres Verbrechen ein wahrer Segen, und das spezielle Verbrechen, dem Stephanie zum Opfer fiel, ist sozusagen der größte anzunehmende Glücksfall.

Diese Konstellation: Das Mädchen, an der Schwelle zwischen Kind und junger Frau, unschuldig, hübsch, tapfer - und auf der anderen Seite dieser Täter, glatzköpfig, brutal, rücksichtslos, man sieht ihn immer nur im Polizeigriff, wie ein Tier, das gebändigt werden muss.

Auch die lüsternste Berichterstattung findet gewöhnlich ihre Grenzen im Schutz kindlicher und jugendlicher Opfer. Im Strafverfahren verzichten Gericht und Staatsanwaltschaft, wann immer es möglich ist, auf die Einvernahme von Kindern als Zeugen.

Man will ihnen ersparen, ihre Leidensgeschichte immer und immer wieder erzählen zu müssen. Lässt sich der Zeugenauftritt eines Kindes nicht vermeiden, wird die Öffentlichkeit ausgeschlossen und ein Fotografierverbot verhängt. Kein Kind soll, gerade im Zusammenhang mit Sexualverbrechen, an die Öffentlichkeit gezerrt werden.

Stephanie wurde am Tag nach ihrer Befreiung von der Kriminalbeamtin, die sie tags zuvor auf ihren Armen aus Mario M.'s Wohnung getragen hatte, in Anwesenheit einer Psychologin vernommen. Sie äußerte sich umfassend und detailliert über die fünf Wochen ihrer Gefangenschaft. Die Beweislast war erdrückend: M. hatte fast alles, was er mit Stephanie angestellt hatte, auf Video dokumentiert. Andreas Boine, Mario M.'s Verteidiger, hatte ein umfassendes Geständnis seines Mandanten angekündigt.

Alle Prozessbeteiligten wussten, dass der Berliner Professor Hans-Ludwig Kröber, der Mario M. psychiatrisch begutachtete, eine andauernde Gefährlichkeit des Angeklagten attestiert und so den Weg für die Verhängung von Sicherungsverwahrung nach Verbüßung der zu erwartenden hohen Haftstrafe geebnet hatte. Es gab für die Staatsanwaltschaft keinen Anlass, dem Mädchen eine weitere Vernehmung oder gar Zeugenaussage zuzumuten.

Das hätte, sagt der Dresdner Oberstaatsanwalt Christian Avenarius, auch ein Risiko für Stephanie mit sich gebracht. Bei der Fülle von Einzelereignissen hätte es kaum ausbleiben können, dass das Mädchen sich in Details in Widersprüche verwickelt, die es einem fähigen Verteidiger nachgerade zur Pflicht gemacht hätten, bohrende Nachfragen zu stellen.

Aber im Fall Stephanie sind noch andere Interessen im Spiel. Stephanie und ihre Eltern treten im Prozess als Nebenkläger auf und werden vertreten von dem Rechtsanwalt Ulrich von Jeinsen aus Hannover. Jeinsen gehört einer Spezies an, die in Deutschland vergleichsweise jung ist: Er ist "Opferanwalt".

Diese Anwälte sind darauf spezialisiert, für Opfer von Unglücksfällen und Katastrophen Schmerzensgeld und Schadensersatz zu erstreiten. Ulrich von Jeinsen war beim Concorde-Absturz tätig und beim Halleneinsturz in Bad Reichenhall. Jetzt hat er ein neues Geschäftsfeld entdeckt: Verbrechensopfer. Rund eine Million Euro will er vom Freistaat Sachsen einfordern, weil die Polizei bei der Fahndung versagt und so Stephanies Martyrium schuldhaft verlängert habe.

Die Erfolgsaussichten sind marginal. Rückblickend gibt es kaum eine polizeiliche Ermittlung, bei der nicht irgendetwas falsch gelaufen ist. Ein Hinweis, dem zu spät nachgegangen wurde. Eine Spur, die vernichtet wurde. Eine Speichelprobe, die verwechselt wurde. Könnte der Staat für all das haftbar gemacht werden, müsste man die Polizeiarbeit einstellen.

Anwalt Jeinsen sieht das anders. Als klar wurde, dass die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Mario M. erheben würde, ohne Stephanie nochmals zu vernehmen, erklärten Jeinsen und sein juristischer Mitarbeiter Thomas Kämmer der Staatsanwaltschaft den Krieg. Nicht 30 Vergewaltigungen, wie es in der Anklage steht, sondern 100 Vergewaltigungen habe Stephanie erdulden müssen.

Weil für jede Vergewaltigung in der Schadensersatzforderung 20.000 Euro eingesetzt werden, erhöht das den Streitwert (und in der Folge das Anwaltshonorar) beträchtlich. Man müsse wohl der Staatsanwältin Liane Pospischil, die die Anklage im Gericht vertreten sollte, "aufs Pferd helfen", ließ Anwalt Jeinsen verlauten.

Als die Staatsanwaltschaft trotz dieser Aufstiegshilfe nicht im Sinn des Nebenklagevertreters spurte, zog man in der Kanzlei Jeinsen andere Saiten auf. Sein Mitarbeiter Thomas Kämmer hat zwar noch kein zweites Staatsexamen, rühmt sich aber sehr guter Beziehungen zu einem Redakteur des Magazins Spiegel. Kämmer ist ein außerordentlich beredter Mensch; wenn man mit ihm telephoniert, erfährt man ungefragt eine Menge Details über die Praktiken, die Mario M. mit Stephanie durchexerziert hat.

Am 11. September erschien im Spiegel eine lange Geschichte, die diesbezüglich kaum Fragen offenließ. Stephanie ist auch im Bild zu sehen, allerdings nur als Schattenriss auf einem von Bäumen beschatteten Bürgersteig. Wenige Tage später sitzt die 14-Jährige bei Johannes B. Kerner im ZDF. Man sieht sie jetzt in Großaufnahme, immerhin nur von hinten.

Für Bild aber sind die Veröffentlichung im Spiegel und der Auftritt bei Kerner das Signal, alle Hemmungen über Bord zu werfen. Von jetzt an gibt es Fotos von Stephanie von vorn und in voller Lebensgröße, mit einem schmalen schwarzen Anstandsbälkchen oder ein paar Pixeln nur notdürftigst verfremdet. "Der Staatsanwalt soll sich schämen", schreit die Schlagzeile Tage vor Prozessbeginn. "Kommt der Täter zu milde davon?" "Warum lief DER überhaupt FREI RUM?"

Dann kommt der Tag, an dem Mario M. beim Hofgang aufs Gefängnisdach klettert und dort 20 Stunden ausharrt. Eine peinliche Panne, aber auch nicht mehr. Keine Sekunde bestand die Gefahr, dass er entfliehen könnte. Niemand war gefährdet, man konnte einfach warten, bis es ihm zu ungemütlich wurde. Bild widmet dem Vorgang zweieinhalb Seiten: "Arme, arme Stephanie! Kann sie nie mehr ohne Angst leben?"

Stephanies Foto dazu reicht über eine ganze Zeitungsseite. Anwaltsgehilfe Kämmer fordert eine Standleitung von seinem Büro ins sächsische Justizministerium, damit er über Schritt und Tritt des Gefangenen M. informiert werden kann. Stephanies Familie, lässt er verbreiten, erwäge die Auswanderung, um vor Mario M. sicher zu sein, und zahlen werde das der Freistaat Sachsen!

Welchen Nutzen diese Art der Öffentlichkeitsarbeit für Stephanie und ihre Familie bringt, ist nicht ersichtlich. Welche Folgen sie hat, kann man an einem der nächsten Verhandlungstage im Gerichtssaal beobachten. Ein Zuschauer trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck: "Stoppt Tierversuche - Nehmt Kinderschänder". Der Vorsitzende Richter Tom Maciejewski weist den Mann an, das Hemd auszuziehen.

Diese Strafkammer ist zwar nicht für ihre Milde bekannt, aber sie duldet nicht, dass der Angeklagte zum Hassobjekt degradiert wird. Es ist eben nicht so, wie die Sensationsberichterstattung glauben machen will: Auch Mario M. ist nicht einfach nur böse. Eine seiner früheren Partnerinnen hat ihn als "Mann mit zwei Gesichtern" beschrieben: fürsorglich und liebevoll einerseits, rücksichtslos und gewalttätig bis zur blanken Brutalität andererseits.

Der Psychiater Kröber hat eine Szene beschrieben, in der das besonders verstörend zum Ausdruck kommt. Immer, wenn M. die Wohnung verließ, in der er Stephanie gefangen hielt, sperrte er das Mädchen wieder in die Holzkiste, in der er sie entführt hatte. Es ist eine sehr kleine Kiste, um einen Menschen darin einzusperren. Eine halbe Stunde eng zusammengekauert darin auszuharren, muss die pure Qual für Stephanie gewesen sein.

Mario M. wusste das. Er sei extra selten ausgegangen, sagt er, damit Stephanie nicht so oft in die Kiste musste. Wenn er zurückkam, habe er als erstes schnell die Kiste aufgemacht. So sieht er das, auf so abwegige Art rechtfertigt er sich. Einmal, erzählt er dem Psychiater, habe Stephanie ihn wirklich umarmt, weil sie so froh war, wieder aus der Kiste zu kommen. Er wisse schon, dass die Situation für sie nicht schön gewesen sei, aber für ihn sei diese Umarmung eben doch schön gewesen.

Am Donnerstag will das Gericht sein Urteil verkünden.

© SZ vom 12.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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