Schwarz-Weiß tut ja so gut. Diese Übersicht und Klarheit. Hier der Gute. Da der Böse. Auf der einen Seite der besonnene Kapitän, auf der anderen ein Pirat auf Drogen: Ahado, Kopf einer durchgeknallten Somali-Bande, die die Hansa Stavanger am 4. April 2009 auf offener See entert, die Mannschaft mit Scheinhinrichtungen und Köpfungsvideos terrorisiert, das Schiff verwüstet, permanent Kat kaut und herumbrüllt, und am Ende mit 2,75 Millionen Dollar abhaut.
Auf der anderen Seite der erfahrene Krzysztof Kotiuk, der jahrelang die sieben Weltmeere befahren hat und die 24-köpfige Mannschaft seines Schiffs rettet, indem er, auf sich allein gestellt, vier Monate lang souverän reagiert.
Weiß-schwarz kann man das Ganze natürlich auch erzählen: die armen Piraten. Sind doch alles ehemalige Fischer aus stolzen Handelsstämmen, denen die Trawler die Lebensgrundlage entzogen haben, weil sie die Meere leerfangen. Mit ihren Überfällen auf die Containerschiffe nehmen sie mutig Rache an der Globalisierung.
Und hey, eine Handvoll Piraten, die erst mit ihren Nussschalen einen Ozeanriesen in ihre Gewalt bekommen und dann die Bundesregierung in die Knie zwingen - muss man auch erst mal schaffen. Der Berliner Krisenstab hatte sich anfangs geschworen, nicht zu zahlen. Aber der Versuch, die Stavanger mithilfe deutscher Kriegsschiffe zu befreien, scheiterte kläglich. Am Ende warf ein Kleinflugzeug die geforderten 2,75 Millionen ab, alle Piraten konnten entkommen.
Ach ja, Weiß-Weiß geht ebenfalls: zwei Antagonisten, die im Laufe der Geiselnahme Lebensfreunde werden. So wollten die Geschichte kürzlich ein paar deutsche Journalisten inszenieren, Kotiuk sollte nach Mogadischu fliegen und ein Wiedersehen mit Ahado feiern. Weil er ihm doch damals, am Ende des Albtraums, als Ahado nach 122 Tagen mit seinem Anteil der Beute von Bord ging, seine Schuhe geschenkt hat und sein letztes Hemd. Und weil Ahado beides bis heute trägt.
Die Wahrheit liegt wie immer irgendwo dazwischen und ist deshalb ungefähr so grau wie Krzysztof Kotiuks Gesicht. Der ehemalige Kapitän sitzt an einem Dezembernachmittag in einer kleinen Wohnung in Chiavari, einem Dorf bei Genua, und sagt: "Was für ein absurder Vorschlag, Ahado ist doch nicht mein Freund. Und ich flieg' auch bestimmt in diesem Leben nicht mehr nach Mogadischu."
Kotiuk hat, als er das sagt, schon eine Stunde erzählt: Davon, wie sich die Geiselnehmer freuten, als sie merkten, dass unter den 25 Geiseln fünf Deutsche waren: Für Tuvalus oder Bangladescher kann man kein Geld erpressen. Für Deutsche wird im Schnitt eine halbe Million Euro gezahlt. Wie sich die Zeit in den Wochen der Entführung in einen bleiernen Ozean verflüssigte.
Dass die Mannschaft am Ende nur noch von Reis aus einem der aufgebrochenen Container und vom Kondenswasser aus der Klimaanlage lebte. Wie kalt die Reederei während des zähen Verhandlungspokers mit ihnen umging. Dazu das hygienische Desaster, vierzig Mann und ein Klo.
All das erzählt Kotiuk ganz ruhig. Aber die Sache mit der vermeintlichen Freundschaft, das regt ihn jetzt auf. Dass ihm fremde Leute sagen, er habe das Stockholmsyndrom und identifiziere sich mit seinem Entführer. Oder gar behaupten, er habe damals kollaboriert. "Freundschaft ist doch das völlig falsche Wort. Ahado hat mich beinahe erschossen. Weil er einmal glaubte, ich hätte mich heimlich ins Internet eingeloggt. Er wollte mich aufs Deck schleifen, genau dahin, wo ich Wochen zuvor . . . meine Scheinhinrichtung . . . Ich hab mich am Tisch festgehalten und gesagt, wenn schon, dann mach's hier. Anscheinend hat Ahado irgendwann kapiert, dass das mit dem Internet ein Missverständnis war. Drei Tage später kam er zu mir und hat mich um Verzeihung gebeten."
Kotiuk ist ein großer schwerer Mann, er hat den zweiten Dan in Judo. Jetzt kniet er sich plötzlich in dem kleinen Wohnzimmer vor seinen Besucher, nimmt dessen Hand, legt sie sich auf den Kopf, und verbeugt sich kurz: So war das anscheinend, als Ahado, der Pirat, den Kapitän, seine Geisel, um Entschuldigung bat.
Als Kotiuk sich wieder aufrichtet, reißt er jäh den Mund auf. Auf den ersten Blick sieht es aus, als müsse er gähnen. Aber er verharrt so, den Blick starr an die Decke gerichtet, aschfahl, den Mund aufgerissen wie zu einem stummen Schrei. Als gehe er gerade unter im Schwarzen Meer seiner Erinnerungen, als sei er tief unter Wasser, habe keinen Sauerstoff mehr und müsse dringend nach oben.
Ein sensationeller Film
Dann fällt die Spannung plötzlich ab, er sackt auf den Stuhl, saugt literweise Luft in die Lungen und muss die Brille abnehmen. "Da siehst du's, so ist das dann", sagt er und wischt sich die geröteten Augen. "Die Wucht der Flashbacks kennst Du ja aus dem Film."
Der Film. Eine Sensation. Der Dokumentarfilmer Andy Wolff interessierte sich von Anfang an für die Piraten vor Somalia. Was trieb diese Leute an? Wie kann es sein, dass ein paar Jungs mit einer Panzerfaust und einem winzigen Außenbordmotor ein Schiff von 170 Metern Länge in ihre Gewalt bekommen? Und was ist das überhaupt genau für ein Business?
Laut einem Weltbankbericht wurden seit 2005 von somalischen Piraten 1968 Schiffe angegriffen. 218 konnten entführt werden. Im Schnitt wurden von Reedereien und Regierungen jährlich 52 Millionen Dollar Lösegeld gezahlt. Aber wie kann man davon erzählen?
Als Wolff von der Befreiung der Hansa Stavanger hörte, nahm er Kontakt auf mit Kotiuk. "Der Andy hat mich reingelegt", sagt Kotiuk jetzt in Chiavari. "Ich wollte eigentlich nicht, dass der alles zeigt, meine Traumatherapie, die Wutausbrüche, die Denunziationen der ehemaligen Mannschaftskollegen. Aber das war gut so."
Ja, das war tatsächlich gut so. Wolff hat einen Film gedreht über die zwei Seiten der Wahrheit. Er hat Kotiuk in seiner monatelangen Therapie begleitet, in der der Kapitän noch mal seine Scheinhinrichtung durchlebte. In der er lernte, bei Hubschrauberknattern nicht mehr in Panik zu versinken und sich in einen halbwegs funktionierenden Alltag zurückzutasten.
Wolff hat über den Somalideutschen Yusuf Guul aber auch Kontakt aufgenommen zu Ahado. "Der Kapitän und sein Pirat" ist schon allein deshalb unglaublich, weil es diesem Yusuf Guul gelang, wochenlang mit einer Handkamera unter den Piraten zu filmen, an der Küste von Hobyo und Garakad. Man sieht, wie primitiv ihr Leben ist - trotz der hohen Summen, die sie oft erbeuten.
"Von dem Geld kriegen die ja kaum etwas ab", sagt Krzysztof Kotiuk jetzt im 3000 Kilometer entfernten Chiavari. Klar, vieles geht an die Bosse, die die Operationen vom Festland aus dirigieren. Kotiuk aber glaubt, dass das ganze Business sogar von noch weiter oben gesteuert wird. "Die echten Bosse sitzen auf den Bahamas." Mehr will er nicht sagen dazu.
"Der Kapitän und sein Pirat" lässt die beiden Protagonisten im Wechsel erzählen: Kotiuk schildert den Druck, der entsteht, wenn man zwischen der eigenen Mannschaft, den Piraten und der verhandelnden Reederei steht. Im Gegenschnitt Ahado, der nachts in Dschibuti sitzt, Khat kaut und fast charismatisch ruhig über sich selbst, die Entführung und Kotiuk spricht: "Der Kapitän war wie eine Lampe, die einsam im Raum hängt. Zuletzt mochte ich ihn, so wie man einen Vater mag. Ich mochte ihn als Somalier und als Muslim."
Ahado und seine Leute nutzten die Hansa Stavanger als Operationsbasis für weitere Entführungen. Als sie hörten, dass befreundete Piraten den amerikanischen Kapitän Phillips der Maersk Alabama in einem Rettungsboot als Geisel hielten, wollten sie ihren "Kollegen" zu Hilfe eilen, fanden aber das Rettungsboot nicht.
Die Geschichte um Captain Philips' Rettung läuft gerade in den deutschen Kinos, sie eignet sich hervorragend für einen Hollywoodfilm, weil der Held Amerikaner ist, der am Ende von Amerikanern befreit wird. Weil das Drama um seine Rettung gerade mal sechs Tage dauerte. Und weil man so schön schwarz-weiß erzählen kann: Auf der einen Seite Tom Hanks als Captain, auf der anderen schwarze Nobodys.
Kotiuk hat sich "Captain Phillips" vor ein paar Tagen angeschaut. Er hat zwei Freunde mit ins Kino genommen. "Die Enge auf dem Rettungsboot, die Todesangst, die unentwegt herumschreienden Piraten, das war sehr gut gespielt, ich wollte Tom Hanks dauernd zu Hilfe eilen, beide Freunde mussten mich immer wieder im Kinosessel festhalten und beruhigen."
Der Film "Captain Phillips" ist konventionelles Hollywoodkino mit Happy End. "Der Kapitän und sein Pirat" ist anders. Mutiger. Er erzählt von den 122 Tagen Geiselhaft genauso wie von den seelischen Verwüstungen, die diese Erfahrung in Kotiuks Leben angerichtet hat. Er zeigt aber auch einen Piraten, der einem während seiner präzisen Schilderungen überraschend sympathisch wird. Ja, man denkt, was Kotiuk selbst einmal in Chiavari sagt: "Wenn Ahado hier in Europa leben würde, hätte der irgendeinen bürgerlichen Beruf, das ist kein Killer."
Die Alpträume bleiben
Der für Kotiuks Leben entscheidende Unterschied zwischen den beiden Entführungen steht im Abspann des Hollywoodfilms: "Captain Phillips fuhr im Mai 2010 wieder zur See." Krzysztof Kotiuk hingegen ist nie mehr zu See gefahren. Er hat nach dem Ende des Geiseldramas mehrere Interviews gegeben, in denen er der Reederei vorwarf, die Mannschaft all die Monate über schmählich im Stich gelassen zu haben. Die Reederei entließ ihn kurz nach Erscheinen dieser Interviews. Das hat ihn am Ende mehr getroffen als die Geiselnahme selber.
Das und die Vorwürfe der Mannschaft, er habe mit den Piraten kooperiert und sich zu wenig um sie gekümmert. Es gibt eine Szene in "Der Kapitän und sein Pirat", in der Kotiuk stammelt, er könne das nicht verstehen. Er als Kapitän habe sie alle da lebend rausgebracht und jetzt - "Warum bekomme ich keine Anerkennung? Warum erkennt mich der somalische Pirat Ahado besser als meine eigene Mannschaft." Man wünscht sich in dem Moment noch die dritte Seite der Wahrheit dazu: die ganze Entführung aus Sicht seiner Mannschaft.
Krzysztof Kotiuk lebt heute von einer winzigen Rente - in Apulien, weil er sich das Leben in Deutschland nicht mehr leisten könnte. Und er lebt in seinen Erinnerungen, weil er nicht loskommt von der Hansa Stavanger. Er ist gegen den Rat seines Therapeuten viel auf Internetseiten unterwegs, auf denen man den Piraten quasi bei der Arbeit zusehen kann.
www.icc-ccs.org ist eine Art Liveticker, eine Seite, auf der alle Entführungen gesammelt werden. Am Horn von Afrika gehen die Angriffe seit 2011 zurück, weil es mehr Begleitschutz gibt und viele Schiffe bewaffnete Security an Bord haben. "Das hat sich jetzt nach Nigeria rüberverlagert", sagt Kotiuk und zeigt auf ein paar winzige rote Punkte im Atlantik. "Da geht es noch brutaler zu. Die schicken erst mal eine Kapitänshand an die Reederei."
Auf die Frage, ob er Albträume habe, winkt Kotiuk ab. "So viele . . . Es gibt den Demütigungstraum, in dem ich wieder eingestellt werde, als 3. Offizier, und alle lachen mich aus. Und es gibt den Traum, in dem die Piraten mir mit einer Axt den Teil des Gehirns entfernen, in dem die Erinnerung sitzt. Was ja in Wirklichkeit ganz hilfreich wäre: endlich vergessen."
Am kommenden Donnerstag wird Krzysztof Kotiuk nach München kommen. "Der Kapitän und sein Pirat" läuft hier im Kino an, er will dabei sein. Ohne seinen Piraten. Aber mit seinem Regisseur Andy Wolff.