Der Piano-Mann:Ein trauriger Fall

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Im Waldmünchen endet die Reise des Andreas Graßl, von dem alle Welt wollte, dass er ein Klaviervirtuose ist. Stattdessen muss er sich nun in seiner oberpfälzischen Heimat der Medien erwehren. Fernseh-Teams drangsalieren seine ganze Familie.

Olaf Przybilla

Es gibt Geschichten, die wollte man eigentlich gar nicht so genau wissen. War die Vorstellung nicht wunderschön, der schweigende "Piano Man" aus dem Meer an der Küste vor Kent sei einer gewesen, der sich einst dem Klavierspiel verschrieben hat? Und der dann eines Tages beschlossen hat zu schweigen. Aus Protest, weil sie ihm zu oberflächlich geworden ist, die heilige Kunst.

Schützt sich vor zudringlichen Medienvertretern: Der Piano-Mann Andreas Graßl. (Foto: Foto: AP)

So wurde das debattiert in den Weltblättern, aber wenn man nun steht im oberpfälzischen Örtchen Prosdorf, vor dem Bauernhof von Josef Graßl, dann ist die Geschichte gar nicht mehr schön. Dann sieht man einen Bauern, der mit den Nerven fertig ist. Und der bis in den Kuhstall verfolgt wird von Fernsehteams.

Sie haben ihn belagert, die ganze Nacht lang. Eine Stunde vor Mitternacht soll sein Sohn Andreas Graßl, der "Piano Man", am Fenster gestanden haben, oben im zweiten Stock. Als er die Scheinwerfer sieht, geht der Rollladen nach unten und elf Stunden später wieder hoch.

Geld, sehr viel Geld

Wenn Andreas Graßl jetzt in die Küche geht, könnte ihm seine Mutter einen kleinen Schrieb in die Hand drücken. Vom Daily Mirror. Wenn er spricht, steht da zu lesen, dann gibt es Geld, sehr viel Geld für einen 20-Jährigen. Der Zettel fiel durch den Briefschlitz.

Wenn sein Vater, ein tieftrauriger Mann mit blauer Mütze, über den Hof muss, ruft er: "Geht weg!" Oder: "Ihr lügt doch alle!" Dann will er wieder in sein Haus, kommt aber nicht rein. Klingelt, aber keiner macht auf. Es haben schon zu viele geklingelt an dem Morgen. Bauer Graßl ruft: "Chriistaaa!"

Ein Deutscher, ein Bayer

Wer ist der "Piano Man" wirklich? Bei der Regensburger Regionalzeitung haben sie am Montagabend auf einmal gelesen, dass er Deutscher ist. Dann: Ein Bayer. Und zuletzt: Einer aus Waldmünchen, Landkreis Cham, sieben Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt.

Nun hätte man bei der Mittelbayerischen Zeitung diese Geschichte schreiben können: Wie das sein kann, dass in einer Stadt mit 7000 Einwohnern vier Monate lang keiner einen Mann vermisst, der dort die ersten 19 Jahre seines Lebens verbracht hat. Und: Warum einer, dessen Bild in jeder Zeitung der Welt abgebildet war und auch im Lokalblatt, warum den hier niemand erkannt hat.

Dann aber hat ein Musikredakteur noch einmal auf das Foto geschaut und gemerkt: "Das ist der Andreas." Jener introvertierte junge Mann, der vor drei Jahren, als er am Robert-Schumann-Gymnasium in Cham Abitur machte und die Waldmünchener Popmusikszene für die Jugendseite aufgearbeitet hat.

"Ein gescheiter Junge"

Es haben ihn also nicht nur die acht Landwirte im entlegenen Stadtteil Prosdorf nicht erkannt. Sondern Graßls ehemalige Kollegen nicht. Am Montagabend erkennt ihn dann auch Franz Höpfl, der Nachbarslandwirt, als ihm die Fernsehteams das Foto hinhalten. Klar, den kenne er, ein gescheiter Junge, kontaktfreudig, sympathisch. Einer, der Nachhilfestunden gibt.

Journalist hat er werden wollen und die französische Sprache geliebt. Nach dem Zivildienst ist er nach Frankreich gegangen, man sah ihn dann nicht mehr in Prosdorf. Danach erfährt der Bauer, nun stehe in den Blättern, der "Piano Man" könne gar nicht Klavier spielen. Und er habe in der Psychiatrie einfach nur psychisch Kranke nachgeahmt. "Das habe ich ihm nicht zugetraut", sagt Höpfl.

Am nächsten Morgen wird er es nicht mehr wiederholen. Weil er unterdessen im Fernsehen gesehen hat, wie sie auf dem Hof nebenan den Nachbarn bis in den Stall verfolgen.

Schlechte Erfahrungen mit Zeitungsleuten

Ist der "Piano Man" ein "Hochstapler", wie an diesem Morgen in Bild steht? Bürgermeister Franz Löffler wird das auch gefragt. Der CSU-Mann hat schlechte Erfahrungen gemacht mit den Zeitungsleuten. Zwei Waldmünchener haben Selbstmord begangen im vergangenen Jahr, ein weiterer hat es versucht. Daraus wurde die "Selbstmordstadt im Bayerwald".

Jetzt liest man, der Waldmünchener Andreas Graßl habe auch Selbstmord begehen wollen. Weil er seinen Job verloren hat, auf dem Land bei Paris. Worauf er nach England gefahren ist, sich am 7. April 2005 ins eiskalte Wasser gesetzt und seither geschwiegen hat.

Am Nachmittag geben die beiden Regensburger Rechtsanwälte Graßls eine Pressekonferenz im Gasthof "Zur Linde". Der Fall des Andreas Graßl, hört man nun, ist wirklich nur traurig. Einen schweren depressiven Schub hat der 20-Jährige in Frankreich. Mit Gelegenheitsjobs hält er sich über Wasser, dann will ihn sogar dafür keiner mehr haben. Der Beginn des Studiums rückt in weite Ferne.

Schwere Psychose

Graßl leidet unter einer schweren Psychose, die Klinik wird sie ihm später attestieren. Eine Ente sei es, sagen die Anwälte, dass es Rechtsansprüche auf Begleichung der Klinikkosten gebe. Ihr Mandat sei schließlich krank gewesen. Warum er seine Identität verleugnet hat? Eine Psychose, da tut man vieles. Dass er Behinderte nachahmen wollte, sei "eine schlimme Unwahrheit", er habe niemals mit Behinderten oder psychisch Kranken zusammen gearbeitet.

Ob Graßl mitbekommen habe, dass er weltberühmt wurde in der Zwischenzeit? Irgendwann habe ihm das gedämmert, ja. Aber jetzt, lasse der junge Mann ausrichten, wolle er nur noch in Ruhe gelassen werden. Keine Interviews bitte, keine Talkshows und vor allem: Kein Geld. Graßl habe niemals berühmt werden wollen.

Am Ende die wichtigste der Fragen: Kann Andreas Graßl Klavier spielen? Ja, "für den Hausgebrauch". Er bekam ein Keyboard geschenkt als Jugendlicher. Das Spiel hat ihn anfangs beruhigt, später hat er auch das nicht mehr machen wollen in der Klinik, dann habe er nur auf der einen Taste herumgehämmert, was eine Schwester dort wohl dazu verleitete, dem Daily Mirror zu sagen, dass er gar nicht spielen könne.

Bald studieren

Der junge Mann sei stabil jetzt. Irgendwann will er ein Studium beginnen. Französisch vielleicht oder irgendwas anderes. "20-Jährige", sagt der Anwalt, "sind manchmal so".

© SZ vom 23.08.05 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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