Der Fall "Pascal":Zweifel zum Verzweifeln

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Das Verbrechen spottet jeder Beschreibung: Missbrauch und Ermordung eines Fünfjährigen. Und nach Einschätzung des Gerichts sprechen "gewichtige Gründe" für die Schuld der Angeklagten. Und doch: "Vernünftige Zweifel" werden voraussichtlich zu Freisprüchen führen.

Hans Holzhaider

Saarbrücken, im Juli - Es ist verblüffend, wie sich die Atmosphäre in einem Gerichtssaal verändern kann.

Bis heute gibt es keine Spur von Pascal. (Foto: Foto: dpa)

Damals, wie man aus heutiger Sicht schon sagen muss, im September 2004, war dies ein Ort des maßlosen Schreckens, der äußersten, bedrückendsten Trostlosigkeit.

Die Angeklagten, vier Frauen, neun Männer, die der Reihe nach einzeln von Justizbeamten hereingeführt wurden, wirkten grau, stumpf, heruntergekommen, eine Versammlung gescheiterter Existenzen. Und heute?

Heute stehen sie vor Verhandlungsbeginn locker plaudernd im Flur vor dem Schwurgerichtssaal, sommerlich leger gekleidet, noch schnell die eine oder andere SMS ins Handy tippend. Frau K., damals eine verhärmte Person mit schartigem Kurzhaarschnitt, hat sich die Haare schulterlang wachsen und kräftig aufblonden lassen. Sie ist nicht wiederzuerkennen.

Ist das wirklich die Frau, die damals in gleichmütigem Tonfall erzählte, wie der Angeklagte Martin R. den fünfjährigen Pascal "auf der Pritsch' im Kämmerche" vergewaltigt habe, wie die Angeklagte Andrea M. , "'s Andrea", wie man hier sagt, dem Buben den Kopf ins Kissen gedrückt habe, damit er still sei, und wie sie selbst "die blaue Tüt' uffgehalte" habe, um den Leichnam zu entsorgen?

Herr R., der angebliche Vergewaltiger, der acht Wochen nach Prozessbeginn versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, sieht jetzt aus, als käme er frisch von Teneriffa, manchmal lacht er sogar, das tat er früher nie.

Schreie in der "Tosa-Klause"

Ulrich Choduba, der Vorsitzende Richter des Schwurgerichts am Landgericht Saarbrücken, lacht nicht. Dieser Prozess, der jetzt seit 22 Monaten andauert, zerrt an seinen Nerven, an seiner Gesundheit.

Im Februar musste die Verhandlung wegen einer schweren Erkrankung Chodubas für zwei Monate unterbrochen werden, ein paar Tage mehr, und der ganze Prozess hätte von vorne beginnen müssen.

Choduba genießt hohen Respekt in der Saarbrücker Anwaltschaft. Er ist ein altgedienter, erfahrener Richter, man schätzt seine juristische Kompetenz und seine faire Verhandlungsführung. "Wenn er Zweifel hat, wird er nicht verurteilen", sagt einer aus der Riege der Verteidiger.

Und so wird es nach Lage der Dinge auch kommen. Die Kammer hat die Haftbefehle gegen die letzten sechs Angeklagten, die noch in Untersuchungshaft saßen, aufgehoben.

Es gebe, heißt es in dem Beschluss, "vernünftige, nicht nur theoretische Zweifel" an der Schuld der Angeklagten. Neue, belastende Beweismittel seien nicht ersichtlich. Nach derzeitigem Kenntnisstand sei eine Verurteilung nicht möglich. Deshalb sind die Angeklagten jetzt so guter Dinge. Wenn nichts Unvorhergesehenes geschieht, können sie, zumindest was den Vorwurf des Mordes an Pascal betrifft, mit Freisprüchen rechnen.

Einen solchen Beschluss fasst ein Gericht nicht leichtfertig. Das Verbrechen, das den ursprünglich dreizehn Angeklagten zur Last gelegt wird, spottet jeder Beschreibung: Ein fünfjähriger Junge, der im Hinterzimmer der "Tosa-Klause", einer schäbigen Bierkneipe im Saarbrücker Stadtteil Burbach, von mehreren Männern der Reihe nach vergewaltigt wird, während die Wirtin filmt oder fotografiert, während andere Gäste Schmiere stehen und die Musikanlage lauter drehen, um die Schreie des Kindes zu übertönen.

Interessengemeinschaft zum sexuellen Missbrauch

Es soll kein Einzelfall gewesen sein. Andrea M. soll zuvor schon ihren jüngsten Sohn Tobi (Name geändert) zum Missbrauch zur Verfügung gestellt haben. Christa W., die Wirtin der Tosa-Klause, soll dafür Geld kassiert haben. Die Staatsanwaltschaft ging davon aus, dass es eine regelrechte Interessengemeinschaft zum sexuellen Missbrauch von Kindern, bestehend aus der Tosa-Wirtin und ihren Stammgästen, gegeben habe.

Punkt für Punkt hakt die Strafkammer in ihrem Beschluss zur Aufhebung der Haftbefehle die bisherigen Ergebnisse der Beweisaufnahme ab. Objektive Beweismittel: Fehlanzeige. Es gibt kein Blut, kein Sperma, keine sonstigen DNS-Spuren, keine Fotos. Es gibt, vor allem, keine Leiche, trotz intensivster Suchaktionen.

Die Anklage basiert ausschließlich auf den Geständnissen von fünf der dreizehn Angeklagten, "häufig wechselnden, sich in vielen Punkten widersprechenden und vielfach nicht miteinander vereinbaren Angaben". Im Lauf der Hauptverhandlung haben drei der fünf Geständigen ihre Aussagen komplett widerrufen. Sie seien eingeschüchtert und unter Druck gesetzt worden, ließen sie durch ihre Verteidiger erklären, sie hätten schließlich alles gesagt, was die Ermittler hören wollten.

Andrea M. (Foto: Foto: AP)

Die Vernehmungsbeamten wurden als Zeugen gehört, 2000 Seiten Vernehmungsprotokolle wurden verlesen. Das Fazit des Gerichts: "Die Vernehmungen waren durchaus nicht immer frei von suggestiven Elementen." Das ist, in der zurückhaltenden Sprache der Justiz, eine ziemliche Ohrfeige für die Ermittlungsarbeit.

"Äußerst suggestibel"

Nur Andrea M. hat ihre Aussage bis heute in vollem Umfang aufrecht erhalten. Andrea M., 41, die Mutter war Alkoholikerin und Prostituierte, die Oma, bei der sie aufwuchs, starb an Krebs, aus einer Pflegefamilie haute sie ab, lebte zwischen Straßenstrich, Obdachlosenheim, Frauenhaus, Behindertenwerkstatt, schlief mit jedem, der ihr über den Weg lief, brachte fünf Kinder zur Welt, deren Väter sie nicht kennt, landete schließlich bei Christa W., der Tosa-Wirtin, die ihr immerhin eine Art Zuhause bot, aber dafür die halbe Sozialhilfe und den Prostituiertenlohn einbehielt.

Durch ihre Aussage hat sie nicht nur ihre Mitangeklagten, sondern auch sich selbst schwer belastet. Sie will es ja gewesen sein, die Pascal während der letzten, besonders brutalen Vergewaltigung festgehalten und ihn schließlich mit dem Kopf in ein Kissen gedrückt hat. Wer würde so etwas von sich erzählen, wenn es nicht wenigstens in groben Zügen der Wahrheit entspräche?

Aber auch dieses Geständnis hat das Gericht nicht restlos überzeugt. "Im Rahmen der Hauptverhandlung konnte die Kammer mehrmals beobachten, wie die Angeklagte M. lachte und anscheinend ihre Rolle als wichtiges Beweismittel genoss", schreibt Richter Choduba in seiner Begründung für die Aufhebung der Haftbefehle.

Der Gerichtspsychiater Michael Rösler hat Andrea M. als "äußerst suggestibel" beschrieben, sie habe durch ihre belastenden Aussagen "eine Bedeutung erlangt, die sie in ihrem früheren, sozial randständigen Leben nie hatte". Selbstbelastung aus Geltungsbedürfnis also? Auf dieses Geständnis allein, so viel ist klar, kann und will das Gericht keine Verurteilung bauen.

Oberstaatsanwalt Josef Pattar ist gegen die Aufhebung der Haftbefehle Sturm gelaufen. "Schlicht nicht nachvollziehbar" nennt er die Begründung des Gerichts.

Fünf Angeklagte haben Geständnisse abgelegt, die, bei allen Widersprüchlichkeiten in vielen Details, in einem Kernbereich, der Vergewaltigung und dem Tod Pascals, weitgehend übereinstimmen. Drei Angeklagte haben dieses Geständnis in öffentlicher Verhandlung wiederholt, später jeoch widerrufen.

Aber Widerruf hin oder her - wie soll es möglich sein, argumentiert der Staatsanwalt, dass fünf Menschen "sich eine, wie auch immer motivierte, Falschaussage zurechtlegen, die in den wesentlichen Teilen völlig übereinstimmt"?

Das übersteige doch "jedes menschliche Fassungsvermögen". Andrea M., sozusagen Angeklagte und Kronzeugin in einer Person, habe ihre belastende Aussage "seit Jahren unverändert aufrechterhalten", gibt der Staatsanwalt zu bedenken.

Sie hat sie auch im Gespräch mit dem Psychiater wiederholt - "fernab jeden Verdachts möglicher Suggestion", und sie hat sie erst vor fünf Wochen in der Hauptverhandlung noch einmal bekräftigt.

"Gewichtige Gründe sprechen für die Schuld"

Alle Argumente helfen nichts - die Beschwerde des Staatsanwalts gegen die Aufhebung der Haftbefehle wird abgewiesen, wenn auch mit spürbarem Unbehagen.

Die vom Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung sei "hinzunehmen", heißt es im Bescheid des Saarländischen Oberlandesgericht, sofern sie nicht "grobe Fehler aufweist und völlig unvertretbar ist".

Es bleibt ein Zwiespalt, der auch den Richtern des Landgerichts schmerzlich bewusst ist. Josef Choduba und seine Kollegen sind mitnichten von der Unschuld der Angeklagten überzeugt, im Gegenteil: "Gewichtige, nach Auffassung der Kammer sogar überwiegende Gründe sprechen dafür, dass sich zumindest die Angeklagten R., W. und M. im Sinn der Anklage schuldig gemacht haben", schreibt Richter Choduba.

Aber auf der anderen Seite gibt es eben diese Zweifel, "vernünftige, nicht nur theoretische Zweifel." "Im Zweifel für den Angeklagten" ist einer der ältesten Grundsätze der abendländischen Rechtsgeschichte. Die Schwurgerichtskammer in Saarbrücken ist entschlossen, ihn zu beherzigen.

© SZ vom 13. Juli 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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