Der Fall Kevin:Gefahr auf dem Dienstweg

Lesezeit: 2 min

Kevins Stiefvater ist verurteilt, aber das genauso wichtige Verfahren gegen zwei Sozialarbeiter stockt.

Ralf Wiegand

Der Kevin-Prozess ist zu Ende. Der erste Prozess. Kevin aus Bremen erlitt in den wenigen Monaten seines Lebens 24 Knochenbrüche. Wie viele davon ihm sein Stiefvater Bernd K. zufügte, in welchem Zustand sich der Mann dabei befand, ob er es tatsächlich bedauert, was er getan hat - das alles rückt nun wieder in den Hintergrund. Die Schwurgerichtskammer II am Bremer Landgericht hat ihr Urteil gesprochen, zehn Jahre Haft für Bernd K.

Der Ziehvater von Kevin, Bernd K., erwartet im Schwurgerichtssaal des Landgerichts in Bremen seinen Urteilspruch. (Foto: Foto: dpa)

Die persönliche Tragödie einer gescheiterten Stiefvater-Sohn-Beziehung ist strafrechtlich eingeordnet worden. Doch der Fall Kevin ist damit längst nicht abgeschlossen. Die Verurteilung von Bernd K. ändert nichts an dem Grundproblem, das diesen Fall ins Bewusstsein des ganzen Landes gerückt hatte: Wieso durfte Bernd K. überhaupt so lange die Verantwortung für ein Kind tragen, wenn er schon seinem eigenen Leben nicht gewachsen war? Welche Lehren verlangt Kevins Tod?

Die Staatsanwaltschaft hat die Anklagen gegen den Vormund von Kevin und gegen den Sachbearbeiter des Jugendamts bereits fertig. Fahrlässige Tötung durch Unterlassen lautet der Vorwurf, aber wann der Prozess gegen die beiden Sozialarbeiter beginnt, ist noch offen. Offiziell heißt es, das Gericht habe die Verhandlung gegen Bernd K. abwarten wollen. Inoffiziell aber erfährt man: Die drei Schwurgerichtskammern in Bremen sind derart überlastet, dass sie diesen Prozess, den man "Kevin II" nennen könnte, einfach nicht unterbringen. Haftsachen gehen vor. Möglich wäre die Einrichtung einer Hilfsstrafkammer, was aber Geld kostet.

Es sollte dies wert sein. Die Schuld der Verantwortlichen und die Dimension des Behördenversagens müssen aus vielerlei Gründen geklärt werden. Dabei geht es am wenigsten darum, Beamte an den Pranger zu stellen oder gar die gesamte Sozialarbeit im Kinder- und Jugendschutz als unfähig zu brandmarken. Aber es ist in den Amtsstuben nicht zuletzt durch das Versagen bei Kevin eine große Unsicherheit entstanden.

Zeit seines Lebens hatte Kevin eine Akte beim Jugendamt, unzählige Male war er als Problemkind eingestuft worden war, Ärzte, Familienhelfer und Polizei machten besorgt Meldung, und der Leiter eines Kinderheims schaltete sogar den Bürgermeister ein, damit Kevin nicht eine Nummer unter vielen blieb. Das Amt aber schickte das Kind immer wieder in seine kaputte Familie zurück.

Bei den Kinderschutztagen, die vergangenes Wochenende in Kevins Stadt, in Bremen, stattgefunden haben, hat der Bundesvorsitzende des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, darauf hingewiesen, wie verunsichert die Ämter durch den Fall Kevin seien. Die Kosten für die "Fremdunterbringung", wie die Herausnahme eines Kindes aus der Familie genannt wird, seien explodiert. Aus Angst, strafrechtlich belangt werden zu können, würden Sachbearbeiter nun Eltern zu früh ihr Kind wegnehmen, das aber, sagte Hilgers, sei "genauso Gewalt gegen Kinder, wie wenn man es zu spät tut".

Ein Prozess, der die bereits in einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss festgestellte unglaubliche Fehlerkette in Bremen auch noch einmal juristisch beweisen würde, könnte ein Signal sein für die Jugendämter in der Republik: Wenn jeder Einzelne seine Verantwortung wahrnimmt, kann so etwas kaum passieren. Wenn aber alle die Verantwortung auf dem Dienstweg weiterschieben, ist kein Kind sicher. Mit einem Restrisiko leben zu müssen, weil Situationen immer im Verborgenen eskalieren können, ist schlimm genug. Ein von Behörden quasi organisiertes Grundrisiko ist unerträglich. "Kevin II" kann der Öffentlichkeit klarmachen, wie es wirklich in deutschen Jugendämtern zugeht.

Das Versagen der Gesellschaft beim Schutz dieses Jungen lässt sich nur halbwegs wiedergutmachen, wenn es sich nicht aus den gleichen Gründen wiederholen kann.

© SZ vom 06.06.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: