DDR-Wohnkultur:Das unwiderstehliche Design von WBS70

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Japanische Touristen entdecken in Berlin den Charme des Arbeiter- und Bauernstaates: Der Look von damals gilt als schräg - und todschick.

Gregor Schiegl

Die Japaner sind entzückt: Leimtapeten mit Blümchenmuster. Mit Holzimitat beklebte Spanplattenschrankwände. Vergilbte Hüllen von Karel-Gott-Schallplatten. Das Sandmännchen in Gartenzwergformat. Olaf Dietze von der Berliner Wohnungsbaugesellschaft "Stadt und Land" staunt jedes Mal wieder: "Die fotografieren hier jede Ecke."

Möbel und sonstiger Trödel aus der DDR im N)ostalgie-Kaufhaus in Hamburg. (Foto: Foto: dpa)

Vor zwei Jahren hat die Wohnungsbaugesellschaft ihren Bestand saniert. Nur eine 61 Quadratmeter große Dreizimmerwohnung ließ sie bei der Modernisierung aus, um daraus eine Museumswohnung zu machen. Die Wände wurden mit Restbeständen aus der DDR-Produktion tapeziert, selbst das Toilettenpapier der Papierfabriken Heiligenstadt, das wegen seiner aufreibenden Art berüchtigt war, trieb man noch fürs Badezimmer auf.

Eine Pilgerstätte

Im Bezirk Marzahn-Hellersdorf ist die DDR noch lebendig, und das nicht nur im Parterre der Hellersdorfer Straße 179. Hier, im Osten Berlins, reihen sich die Betonmonumente sozialistischen Wohnungsbaus über mehrere Quadratkilometer aneinander. Unter Hellersdorfern kursiert der Witz, das Schönste am Bezirk sei, dass kein Wessi hierherkomme.

Die Museumswohnung schafft es immerhin doch, jedes Jahr ein paar hundert Wessis anzulocken. Aber zwei Drittel der Besucher kommen aus dem Osten - jeder zwölfte von ihnen aus Japan. Und seitdem vor wenigen Monaten in Tokio ein Reiseführer erschienen ist, der zur Museumswohnung vier bebilderte Seiten abdruckt, ist die Wohnung so etwas wie eine Pilgerstätte für Japaner geworden.

Viele von ihnen sind Architekturstudenten, die sich für die besondere Bauweise der Wohnung interessieren: Die eingezogenen Wände bestehen aus Holzrahmen mit Pappwaben, auf dem Estrich dämpfen PVC-Spannteppiche die Schritte. Hightech ist das alles nicht, aber unschlagbar billig: Noch bis zur Wende betrug die Monatsmiete 109 DDR-Mark - warm. Der Bau der gesamten Wohnung, Modell "WSB70", dauerte nur 18 Stunden - alle Installationen inklusive.

Wunderbare Anregungen

Die "WBS70", die Wohnungsbauserie 70, wurde 1972 aufgelegt. Bis 1990 bauten die Kombinate rund 600.000 Wohnungen dieses Typs. In der DDR nannte man sie auch "Arbeiterschließfächer". Wer hier wohnte, richtete sich heimelig zwischen den Platten ein: mit grellbunten Häkeldeckchen, industriell gefertigten Teppichen aus sozialistischen Bruderländern oder ovalen Porzellantellern, die das obligatorische Blumenmuster ebenso ziert wie die Topflappen in der Küche.

Die Begeisterung für DDR-Wohnkultur überrascht die Japanologin Katja Schmidtpott von der Ruhr-Universität in Bochum nicht: "Junge japanische Designer sind von den Mustern und Farben begeistert." Aus fernöstlicher Perspektive sei das Dekor "exotisch" und "skurril" und gebe wunderbare Anregungen für eigene Kreationen. Die westdeutschen Besucher können dieses Gefühl für Exotik oft nicht teilen.

Von ihnen hört Olaf Dietze oft: "Das sieht ja aus wie bei meiner Oma." Gelsenkirchener Barock und Hellersdorfer Biedermeier sind offenbar so weit nicht auseinander.

© SZ vom 23.02.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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