Das Schicksal des James Lowe aus Virginia:Armut macht stumm

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Er wurde mit einer Gaumenspalte geboren und musste 50 Jahre auf Behandlung warten: Die Geschichte eines von 47 Millionen US-Bürgern ohne Versicherungsschutz.

Reymer Klüver

James Lowe ist ein einfacher Mann. Bescheiden lebt er in einem flachen, weiß getünchten Holzhäuschen, so einem, das man auf einen Sattelschlepper wuchten und fortfahren könnte. Die Fenster schließen nicht mehr richtig, was sich jetzt unangenehm bemerkbar macht, da die Tage so kurz und die Nächte so eisig kalt werden in den Schwarzen Bergen Virginias.

James Lowe lernte erst mit 51 sprechen - für den Demokraten John Edwards ist er nun der Musterfall dafür, warum die USA ein sozialeres Gesundheitssystem brauchen (Foto: Foto: Klüver)

Die Polstersessel in seinem Wohnzimmer sind lange in Gebrauch und tief und durchgesessen. Über die Lehnen hat seine Frau Cindy bunte Häkeldecken gelegt, um das Blümchenmuster zu schonen. James Lowe kann weder lesen noch schreiben. Und wenn er spricht, sind lange Sätze seine Sache nicht. Wenn er spricht. Denn das ist keine Selbstverständlichkeit.

51 Jahre ist James Lowe jetzt alt, und die ersten 50 Jahre seines Lebens war er stumm. Ein halbes Jahrhundert lang, fast ein Menschenleben, konnte er nicht sprechen. James Lowe war schlicht und einfach zu arm dafür.

Es ist die Geschichte eines Mannes, der mit einer Gaumenspalte geboren wurde, Wolfsrachen genannt, so schwerwiegend, dass er, anstatt zu reden, nur stammelte und grunzte. Weil sich aber seine Eltern eine Operation nicht leisten konnten, und er später auch nicht genug verdiente, gab es keine Hilfe für ihn.

Seine Geschichte ist eine Geschichte über Armut im reichsten Land der Welt und über die raue Wirklichkeit im Gesundheitssystem, das diese Nation sich leistet. Eine Wirklichkeit, die inzwischen viele Menschen in den USA beunruhigt und über die Michael Moore seinen aktuellen Film "Sicko" drehte. Im nächsten Jahr könnte die Sache entscheidende Bedeutung erlangen bei der Wahl des neuen Präsidenten.

"Sei ehrlich und arbeite hart"

James Lowe wurde hineingeboren in bittere Armut - und entronnen ist er ihr nie. Sein Vater fuhr in die Kohlenminen von Kentucky ein, und irgendwann war er fort. Seine Mutter zog 14 Kinder auf, die eigenen und noch ein paar Nichten und Neffen. Sie hatten keinen Strom, Wasser haben sie aus einer Quelle geschöpft. Und im Winter konnte er vom Bett aus durch die Ritzen in den Wänden den Schnee fallen sehen.

"Es war hart, aber wir kannten nichts Besseres", erzählt Lowe, "wir wussten doch gar nicht, dass es noch etwas anderes auf der Welt gibt." Erst mit 30 Jahren hat er zum ersten Mal eine Rolltreppe gesehen. Zeitlebens hat er Demut gelernt. "Mutter hat mir immer gesagt, mein Sohn, wir haben nicht viel. Aber danke Gott für das, was wir haben."

Das tat er. Das tut James Lowe bis heute, ohne Arg und ganz unverbogen. "Mutter hat mir viel beigebracht. Sei ehrlich und arbeite hart, hat sie gesagt. So habe ich es gemacht."

Und dann war da sein Handicap. "Ich habe sie damals gefragt, warum machen sich die Kinder alle lustig über mich?" Seine Mutter habe seine Laute zu verstehen gewusst, erzählt Lowe, damals als Einzige. "Das ist wie mit einem Hund", erläutert er ohne jeden Hauch von Sarkasmus, "der bellt ja auch verschieden, und das bedeutet immer etwas anderes."

Sie habe ihm damals erklärt, dass sie sich nicht zu helfen wisse, dass er aber eines Tages Hilfe finden werde. "Wissen Sie, davon habe ich immer geträumt, mein ganzes Leben lang."

Eine Krankenversicherungspflicht wie in Deutschland gibt es in den Vereinigten Staaten nicht. Für Kinder wurde zwar inzwischen ein staatlicher Schutz eingerichtet, damals existierte das aber noch nicht. Ein Arzt war zu teuer, selbst wenn sie ernsthaft krank waren. James wurde zum faith doctor geschickt, zum Wunderdoktor in den Bergen, der war billiger und betete dann für James' Gesundheit.

13 Jahre alt war er, als er Schluss mit der Schule machte und sich als Farmarbeiter verdingte. Und 21, als er in die Grube einfuhr, wie sein Vater. Und Anfang 30, als ihn ein Unfall am Förderband untertage zum Krüppel machte. Seither ist er im Wortsinne ein gebeugter Mann. Die Wirbelsäule ist gekrümmt, die Narbe am Rückgrat ist wohl zwei Männerhände lang.

Er bezieht Invalidenrente aus Kentucky, 900 Dollar im Monat, dazu 450 Dollar Rente vom Staat. Davon muss er das Haus bezahlen, Wasser und Strom, das Auto, Frau und Enkelkind versorgen, das sie großziehen, seitdem ihre Tochter kurz nach der Geburt des Jungen an einer Überdosis Drogen starb. Eine Krankenversicherung aber hat James Lowe noch immer nicht.

Es trifft die "working poor"

So wie 47 Millionen Menschen in den USA keine haben, letztlich aus einem einzigen Grund: Sie können es sich nicht leisten. Es trifft die working poor, so bettelarme Leute wie Lowe, die arbeiten oder gearbeitet haben, aber trotzdem keinen Versicherungsschutz bezahlen können.

Und es trifft immer mehr Menschen der Mittelklasse, die abwägen müssen und sich entscheiden, ob sie eher die Ratenzahlungen fürs eigene Haus oder die Krankenversicherung aufgeben - und dann die Wahl treffen, die wohl jeder treffen würde in der Hoffnung, gesund zu bleiben.

Dazu kommen Millionen Unterversicherter, 20, vielleicht sogar 30 Millionen, die sich auf eine hohe Selbstbeteiligung eingelassen haben und bei einer langen Erkrankung durch exorbitante Arzneimittelpreise und Arztrechnungen schnell in den Ruin getrieben werden können. Zusammengerechnet hat also ein Viertel aller Amerikaner keinen ausreichenden Schutz im Krankheitsfall.

Mit fatalen Folgen. "Allein im vergangenen Jahr", sagt Ross Isaacs, ein Nierenspezialist der Uni-Klinik in Charlottesville in Virginia, "starben in den USA mehr Menschen an vermeidbaren chronischen Erkrankungen als Soldaten in allen unseren Kriegen seit 1775."

Makellose Kunstzähne

Es ist eine schleichende Katastrophe. James Lowe zum Beispiel leidet nach den Jahren untertage an Staublunge. Das Inhaliergerät und die Medizin für zusammen 78 Dollar sind nicht drin. Also muss er bei einem Anfall weiter um Atem ringen, und die Krankheit bleibt unbehandelt.

Dennoch spricht der spindeldürre Mann mit dem graugesprenkelten Kinnbart, den zurückgekämmten, falbenfarbenen Haaren und den tiefen Furchen auf der Stirn davon, "gesegnet" zu sein. Das sagen sie in Amerika gern und oft. James Lowe meint es aber auch. "Es ist ein Segen und eine Ehre, so sprechen zu können, dass mich die Leute verstehen." Er erzählt so ausdauernd, dass er irgendwann, wie von sich selbst überrascht, abbricht und fragt: "Rede ich zu viel?

Ausgerechnet er, der über Jahrzehnte nichts wirklich von sich hat mitteilen können. Und wenn er zuhört, fällt auf, dass er gedankenverloren seine Reihe weißer Zähne bleckt, so makellos, wie es nur Kunstzähne sein können.

Ein Sommertag im vergangenen Jahr hat sein Leben verändert. 13 Stunden stand er damals in der Hitze an auf den Wise Country Fairgrounds, dem Jahrmarktsgelände der abgelegenen Kleinstadt Wise im Südwestzipfel Virginias, nur ein paar Meilen entfernt von Lowes Häuschen. Jedes Jahr bieten dort Ärzte und Zahnärzte über Tage kostenlos ihre Dienste an; die Behandlungsräume sind in den Pferchen eingerichtet, wo sonst die Tiere bei den Viehmärkten gehalten werden.

"Rural Area Medical Health Expedition" nennen sie ihre Initiative, als habe Amerika einen Feldzug zur Gesundheitsversorgung so bitter nötig wie ein Entwicklungsland. In diesem Jahr hatten sie nicht weniger als 2317 Patienten.

Für die ist es meist die einzige medizinische Versorgung. Lowe konnten sie nicht sofort helfen, aber sie vermittelten Kollegen, die ihm in 13 Eingriffen und Sitzungen kostenlos eine Gaumen- und Zahnprothese anpassten. Mit der kann er seither sprechen - endlich. Man muss genau zuhören, aber er ist zu verstehen.

Vom Kandidaten entdeckt

Und sie stellten ihn in diesem Sommer John Edwards vor, einem der aussichtsreicheren Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten. Der war nach Appalachia gekommen, wie die Gegend genannt wird, um die Armut in Amerika in Augenschein zu nehmen. Seither erzählt er von James Lowe in seinen Wahlkampfreden als Beispiel dafür, wie dringend die Nation eine gerechtere Gesundheitsversorgung braucht.

Und James Lowe hat auf ein Tischchen im Wohnzimmer wie eine Trophäe den Bilderrahmen mit einem Foto von beiden gestellt. John Edwards könnte da glatt als Lowes jüngerer Bruder durchgehen. Dabei ist der Kandidat drei Jahre älter.

Edwards hatte als Erster im Wahlkampf die Einführung einer Krankenversicherung für alle vorgeschlagen; seine Hauptkonkurrenten Hillary Clinton und Barack Obama haben nachgezogen. Diese sogenannte universal health care wird von den Republikanern als Staatsdirigismus in Bausch und Bogen abgelehnt. Sie wollen lieber Steuererleichterungen schaffen, sodass sich jeder von den gesparten Steuern eine private Krankenversicherung anschaffen könnte.

Doch so viel Steuern kann einer wie John Lowe niemals sparen, dass er damit eine Versicherung finanzieren könnte. Den Trend dürften ohnehin eher die Demokraten erkannt haben: Fast zwei Drittel der Amerikaner wollen mittlerweile die allgemeine Krankenversicherung, selbst wenn sie mehr Steuern zahlen müssten.

Großzügig und schäbig zugleich

Eine halbe Stunde dauert die Fahrt von James Lowes bescheidenem Häuschen nach McClure, einem Weiler noch weiter oben in den Bergen, vorbei an überwucherten Abraumhalden und rostigen Lorengleisen, auf kurvenreichen Straßen überholt von schweren, mit Kohle beladenen Trucks.

Dort kann man erleben, wie Amerika seine Armen behandelt. Großzügig. Weil es Menschen gibt, die sich selbstlos kümmern. Und schäbig zugleich. Weil das Land Menschen, rechtschaffene, redliche Menschen, einfach verkommen lässt.

In McClure steht an diesem kühlen, sonnigen Herbstmorgen ein weißes Wohnmobil, der St. Mary's Health Wagon, direkt an der Straße auf einer Schotterfläche, sodass Autos anhalten können. Es ist eine mobile Krankenstation, die Teresa Gardner, eine kleine, blasse Krankenschwester fast täglich durch diesen Zipfel Virginias kutschiert. St. Mary's ist von Spenden finanziert, und die medizinische Betreuung ist kostenlos. 14 Jahre macht Teresa Gardner das schon.

Ab und zu sind Ärzte wie Ross Isaacs dabei, je nachdem, ob sie sich von ihren beruflichen Verpflichtungen freimachen können. "Wir sind ein paar Verrückte, die finden, dass etwas in unserem Gesundheitssystem falsch läuft", sagt Isaacs, Facharzt für Nierentransplantationen an der Uniklinik von Charlottesville, über sich und seine Kollegen, die sich freiwillig melden.

"Und solange wir das System nicht von oben korrigieren können, wollen wir es von unten tun - einen Patienten nach dem anderen kostenlos behandeln." Das ist so schön formuliert, das hat Isaacs zweifellos schon öfter gesagt. Sagen müssen.

Es sind Patienten wie Alice Polzin, die er behandelt, eine Frau von 60 Jahren mit etwas üppiger Figur, schriller wasserstoffblonder Frisur und heiserer Stimme. Ohne Hilfe kommt sie die drei Stufen ins Wohnmobil nicht empor. Vorne, hinter Fahrer- und Beifahrersitz, liegt das improvisierte Wartezimmer, dort, wo Camper sonst ihre Essecke haben. In der Mitte, hinter einem Vorhang, registriert Schwester Teresa die Patienten, nimmt Blutproben, gibt Arzneien aus. Hinten ist das Behandlungszimmer des Doktors.

Nach der OP die Schulden

Alice Polzin zittert leicht, und wenn sie aufsteht, hat sie Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Einen kleinen Kosmetikkoffer aus billigem, grauem Kunststoff hat sie dabei. Er steckt voller Arzneien. Sie leidet an hohem Blutdruck und zu hohem Cholesterin, sie hat Multiple Sklerose und Diabetes, sie hat Herzattacken und epileptische Anfälle hinter sich. Und sie hat keine Krankenversicherung. Im Monat bräuchte sie Medikamente für 2500 Dollar.

Deshalb ist sie ständig unterwegs - ihr Mann fährt sie - bei staatlichen Stellen, bei Apotheken und Krankenstationen wie dem Health Wagon, erbettelt Arznei. "Das darf doch eigentlich nicht sein", sagt sie, "dass einem das Gefühl vermittelt wird, es wäre eigentlich besser, wenn man gleich stirbt." Das klingt theatralisch, am Morgen. Nach einem Tag im Wartezimmer von Teresa Gardners Wohnmobil denkt man, dass Alice Polzin ziemlich nüchtern ihre Situation widergegeben hat.

Patienten wie sie sind traurige Routine im Health Wagon. Von seinen 30 Patienten an diesem Tag, erzählt Ross Isaacs später, litten mehr als 20 an gleich mehreren chronischen Erkrankungen, oft hoher Blutdruck, Zucker. "Und die meisten kümmern sich nicht darum, bis ihre Beschwerden richtig schlimm werden."

So wie die bleiche 49-Jährige, der oben die Schneidezähne fehlen und die sich ein Gebiss nicht leisten kann. Erst recht nicht, seit sie vor einigen Wochen am Ohr operiert werden musste und nun eine Krankenhausrechnung von 16 000 Dollar abzahlen soll. Sie wird für den Rest ihres Lebens verschuldet sein. Amerikas Kliniken weisen keine Notfallpatienten ab; sie verlangen aber meist, dass Rechnungen abgestottert werden, und wenn es Jahr um Jahr dauert.

Oder Patienten wie der kleine, grauhaarige Bergarbeiter, dem irgendwann ein Glas in der Brille zerbrochen ist, das er aber nicht hat ersetzen können. Ihm hat Isaacs eine Packung Betablocker in die Hand gedrückt, weil sein Blutdruck viel zu hoch ist. "Es wäre nicht schlimm, wenn ich bald sterben müsste", sagt der 59 Jahre alte Mann, im selben biederen Ernst, in dem auch James Lowe spricht, "wenn nur meine Frau und die Kinder einen Versorger hätten."

James Lowe hat in diesem Ton von seiner Mutter erzählt. Zum Beispiel davon, dass sie gehofft habe, nur so lange leben zu dürfen, "bis mein Mund in Ordnung kommt und ich richtig sprechen kann". Vor ein paar Wochen ist sie gestorben. Sie hat ihren Sohn noch reden hören, und sie hat seine Zähne noch gesehen, die Reihe makellos weißer Zähne. "Und das", sagt James Lowe, "war für mich wichtiger als alles andere im Leben."

© SZ vom 3./4.11.2007/aho - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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