Dammbruch:Des Infernos zweiter Teil

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Als der Damm einer Eisenerzmine in Brasilien bricht, sterben mindestens 37 Menschen, 250 werden vermisst. Die Bilder erinnern an 2015 - und die größte Umweltkatastrophe in der Geschichte des Landes.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Eine Lawine von rotbraunem Klärschlamm schiebt sich durch die südbrasilianische Bergbauregion Minas Gerais. Sie begräbt Häuser, Autos, einen vollbesetzen Bus, Menschen und Tiere unter sich - alle, die nicht rechtzeitig flüchten können. Rettungskräfte versuchen, vom Helikopter aus Männer, Frauen und Kinder aus der Schlacke zu ziehen. Für viele kommt jede Hilfe zu spät. Ein Feuerwehrmann spricht von einem "Szenario der kompletten Zerstörung". Diese apokalyptischen Bilder, die jetzt wieder um die Welt gehen, kommen nicht nur Brasilianern bekannt vor.

Sie erinnern stark an den Dammbruch der Eisenerzmine von Mariana vor gut drei Jahren. Der Abraum und die Abwässer zweier Rückhaltebecken, ungefähr 45 Millionen Kubikmeter eines toxischen Gemisches aus Arsen, Aluminium, Blei, Kupfer und Quecksilber, ergossen sich damals in die Landschaft. Im dem Dreck, den man sich wie ein sauerstofffreies Gel vorstellen muss, starben 19 Menschen und ein ganzer Fluss: der Rio Doce, der bis dahin als Wunderwerk der Schöpfung galt. Mariana wird allgemein als die "größte Umweltkatastrophe in der Geschichte Brasiliens" bezeichnet. Umwelt- und Naturschützer kritisieren diese Auffassung aber schon lange. Sie sind fest davon überzeugt, dass es sich um ein "Umweltverbrechen" handelte.

Jetzt hat der Klärschlamm also Brumadinho heimgesucht, einen Ort, der von Mariana keine 150 Kilometer Luftlinie entfernt liegt. Am Freitag um 12.30 Uhr Ortszeit brach der Damm der nahe gelegenen Eisenerzmine Feijão. Viele Bergbauarbeiter und Dorfbewohner wurden von der Lawine beim Mittagessen überrascht. Über die Zahl der Toten konnte zunächst nur spekuliert werden. Der Minenbetreiber Vale veröffentliche am Samstagvormittag eine Liste mit 413 vermissten Personen.

2015, 2019: Es gleichen sich nicht nur die Bilder der Opfer, sondern auch das Täterprofil

Vale ist nicht nur eines der größten Unternehmen Brasiliens, sondern auch Weltmarktführer in der Eisenerzproduktion. Der im November 2015 gebrochene Staudamm von Mariana gehörte dem Tochterunternehmen Samarco. Es gleichen sich also nicht nur die Bilder der Opfer, sondern auch das Täterprofil. Fábio Schvartsman hatte 2017 den Chefposten der Vale-Gruppe mit dem Versprechen übernommen, dass sich so etwas wie in Mariana nicht wiederholen werde. Nun musste er sich und der Welt auf einer eiligst einberufenen Pressekonferenz in der Firmenzentrale in Rio de Janeiro eingestehen: "Wie kann ich behaupten, dass wir daraus (also aus Mariana) etwas gelernt hätten?"

Laut Schvartsman ist noch unklar, was genau den "Unfall" auslöste. Aber war es tatsächlich ein Unfall, eine nicht zu verhindernde Katastrophe? Maíra do Nascimento, die Sprecherin einer Bürgerinitiative, die seit Jahren auf Sicherheitsrisiken der Anlage bei Brumadinho hinweist und gegen die Ausweitung der Produktion kämpft, sprach in der Zeitung O Globo von einer "angekündigten Tragödie". Laut Nascimento wurde die Konzession für die Produktionserweiterung gegen Schmiergeld erteilt. Schvartsman wies den Verdacht zurück, der Staudamm sei nicht korrekt gewartet worden. Erst Ende September 2018 habe der deutsche TÜV Süd dem am Freitag ausgelaufenen Abraumbecken einen "perfekten Zustand" attestiert, sagte er. Auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung bestätigte ein Sprecher von TÜV Süd am Sonntag, dass es zwei Überprüfungen gegeben habe und die entsprechenden Dokumente ausgestellt wurden. Darüber hinaus könne man "aufgrund der laufenden Ermittlungen" derzeit keine weiteren Auskünfte geben. Die Tochtergesellschaft TÜV Süd do Brasil mit Sitz in São Paulo beschäftigt nach eigenen Angaben derzeit knapp 500 Mitarbeiter in Brasilien.

Aber war es tatsächlich ein Unfall, eine nicht zu verhindernde Katastrophe?

Ziemlich perfekt sind laut dem Minen-Konsortium auch die Maßnahmen gewesen, um den Schaden nach dem Dammbruch von Mariana zu begrenzen. Das Tochterunternehmen Samarco teilte schon wenige Monate später mit, die Wasserqualität am Rio Doce entspreche wieder "allen gesetzlichen Vorgaben". Empörung löste eine TV-Werbekampagne aus, bei der die großzügigen und unmittelbaren Hilfsmaßnahmen von Samarco herausgestellt wurden. Tatsächlich warten bis heute Hunderte betroffene Familien auf Entschädigungen von Seiten der Bergbaufirma.

Vale-Chef Schvartsman legte Wert auf den Hinweis, dass diesmal eine wesentlich geringere Schlammmenge als 2015 ausgelaufen sei, etwa zwölf Millionen Kubikmeter, also gut ein Viertel - falls die Angaben stimmen. Außerdem, so der Konzernchef, sei das zerstörte Becken nicht mehr aktiv gewesen, das freigesetzte Material deshalb schon relativ trocken, es habe nicht die Kraft, über eine lange Strecke zu fließen. Im Fall von Mariana hatte der giftige Minenmüll innerhalb von wenigen Tagen die mehr als 650 Kilometer entfernte Atlantikmündung des Rio Doce erreicht. Schvartsman geht davon aus, dass die Schäden für die Umwelt "diesmal wohl geringer" sind. Er sagte: "Diesmal ist es eine menschliche Tragödie."

Bei einem großen Teil der Toten und Vermissten handelt es sich wohl um Mitarbeiter von Vale. Laut Romeu Zema, dem Gouverneur des Bundesstaates Minas Gerais, befanden sich zum Zeitpunkt des Dammbruchs 427 Menschen auf dem Gelände der Eisenerzmine. 279 konnten unmittelbar gerettet werden oder meldeten sich in den folgenden Stunden. Unter den übrigen Opfern dürften größtenteils Bewohner des Städtchens Brumadinho sein. Bis zum Einbruch der Dunkelheit überflogen am Freitagabend Rettungshubschrauber die rotbraune Schneise der Verwüstung. Die brasilianischen Fernsehzuschauer waren live dabei, als Lebendige und Tote aus der Schlacke gezogen wurden. Bis Sonntagmorgen konnten 37 Leichen geborgen werden. Rund 250 Menschen wurden weiterhin vermisst. Gouverneur Zema sagte, es sei unwahrscheinlich, noch viele Überlebende zu finden. Zumal die Suche am Sonntag aus Angst vor einem weiteren Dammbruch vorerst abgebrochen wurde. Vale hatte an einem Rückhaltebecken derselben Mine erhöhte Wasserstände gemessen und Alarm ausgelöst. Die Feuerwehr brachte rund 24 000 Menschen aus den umliegenden Ortschaften in Sicherheit.

In Brasilien sind nach offiziellen Angaben 24 092 Staudämme registriert. Im jüngsten Prüfbericht der für ihre Sicherheit zuständigen Behörde Agencia Nacional de Aguas werden davon 723 als "risikoreich" eingestuft und für 45 gilt eine "erhöhte Warnstufe". Der am Freitag gebrochene Feijão-Damm gehörte nicht dazu - was die Frage aufwirft, wie viele der brasilianischen Eisenerzminen tatsächlich tickende Zeitbomben sind.

Der neue brasilianische Präsident Jair Bolsonaro ließ sich am Samstag öffentlichkeitswirksam über die Region fliegen. Im Anschluss teilte er mit, was Politiker in solchen Situation halt so mitteilen: "Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um den Opfern zu helfen, die Schäden gering zu halten und diese Tragödien für die Brasilianer und die Umwelt künftig zu verhindern." Vizepräsident Hamilton Mourão kümmerte sich darum, die Schäden für die Regierung möglichst gering zu halten: "Das kann man nicht uns anlasten. Wir sind erst seit 30 Tagen im Amt." Stimmt.

Andererseits hatten Bolsonaro und Mourão im Wahlkampf einen massiven Ausbau des Bergbaus in Brasilien angekündigt. Das ist eine ihrer Strategien, um die seit Jahren kriselnde Volkswirtschaft wieder auf Trab zu bringen. Der Investitionsplan sieht auch vor, im Sinne der Minenbetreiber Umweltstandards zu lockern und die Vergabe von Lizenzen zu erleichtern. Bolsonaro war dafür von Naturschutz- und Umweltverbänden kritisiert worden. Die Horrorbilder vom Wochenende übertreffen die Warnungen der meisten Kritiker.

© SZ vom 28.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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