Bewusstsein:Ich ist ein anderes

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Den wenigsten Menschen bewusst, vollzieht sich in den letzten Jahren ein Wandel unseres Weltbildes als Folge der rasanten Entwicklung der Gehirnforschung.

Von Martin Urban

"Beträchtliche Erschütterungen" erwarten diese Forscher, wenn dieser Wandel erst einmal in das allgemeines Bewusstsein einsickert.

Die uralte Frage "Wer bin ich?" beantworten Neurowissenschaftler heute so: Das Ich, unser Selbstbild, ist eine Konstruktion unseres Gehirns. Dieses wendet dieselben Mechanismen, die es zur Interpretation der äußeren Welt benutzt, auch auf sich an.

"Geist und Bewusstsein sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in der Evolution der Nervensysteme allmählich herausgebildet." Dies sei die wichtigste Erkenntnis, betonen die deutschen Gehirnforscher in ihrem soeben veröffentlichten Manifest (abgedruckt in Gehirn & Geist, 6 2004, siehe "Geheimnis der mittleren Ebene").

Die junge Zunft der Gehirnforscher wagt es also, kühne Antworten auf Fragen zu geben, um welche die Philosophen seit zweieinhalb Jahrtausenden ringen. Verständlicherweise sind die Kulturwissenschaftler irritiert.

"Reduktionismus" ist noch das Freundlichste, was sie den Naturwissenschaftlern vorwerfen. Das "Nichts als ..." sei eine zu simple Weltsicht, von ähnlicher Qualität wie das "Alles Chemie" der Materialisten vor 100 Jahren oder "Die Welt ist ein Uhrwerk" der Physiker vor 200 Jahren.

Das "Feuern" oder "Nichtfeuern" von Nervenzellen

Besonders irritierend: Die Neurowissenschaftler haben ihre neue Weltsicht gewonnen, indem sie im Wesentlichen lediglich die Intensitäten der Durchblutung an den verschiedenen Orten im Gehirn sowie das "Feuern" oder "Nichtfeuern" von Nervenzellen beobachten. Bereits daraus können sie derart weitreichende Schlüsse ziehen.

Doch Naturwissenschaften funktionieren so: Aus scheinbar belanglosen Kleinigkeiten wie etwa minimalen Intensitätsschwankungen einer kaum mehr wahrnehmbaren Hintergrundstrahlung im Universum können die Kosmologen eine sehr differenzierte Beschreibung vom Anfang der Welt abgeben.

Oder aus extrem seltenen Vorkommnissen beim Zusammenprall von Elementarteilchen identifizieren die Atomphysiker die Mikrostruktur der Welt.

Ein unfrommer Wunsch

Selbstverständlich wissen die seriösen Neurowissenschaftler, dass sie weit entfernt davon sind, zu verstehen, nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet, wie es die Welt so abbildet, dass unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen.

Unser Gehirn arbeitet mit hochkomplexen neuronalen Netzwerken. Die Forscher betrachten sie als hochdynamische, nichtlineare Systeme, die zwar mehr oder minder einfachen Naturgesetzen gehorchen, aber auf Grund ihrer Komplexität völlig neue Eigenschaften hervorbringen.

Wenn das Gehirn aber einfacher strukturiert wäre, sodass wir es leichter verstehen könnten, wären wir, mit einem solchen einfacheren Gehirn ausgestattet, zu unbedarft, um es zu durchschauen. Möglicherweise werden tatsächlich auch die klügsten Köpfe letztlich zu dumm dazu sein.

Den Vorwurf des Reduktionismus wehren die Neurowissenschaftler mit einem Beispiel ab: Damit, dass man den Aufbau der Fugen von Johann Sebastian Bach versteht, verlieren diese nichts von ihrer Faszination, ihre einzigartige Schönheit kann man nicht erklären.

Die seriösen Gehirnforscher wissen genau, dass sie ihre Grenzen überschreiten würden, wollten sie solcherart Erklärungen auf ihrem Felde auch nur versuchen.

Das alte Weltbild lässt sich nicht retten

Doch was sie bereits erklären können, ist aufregend genug. Das alte Weltbild lässt sich nicht retten, lehrt die Geschichte. Vor 100 Jahren konnten auch gestandene Physik-Nobelpreisträger die überraschenden Erkenntnisse ihres jungen Kollegen Albert Einstein mit der aggressiv verfochtenen Lehre von gestern, damals "Deutsche Physik" genannt, nicht mehr aus der Welt schaffen, die nun plötzlich ganz anders aussah.

Das "Jetzt", so bewies der Schöpfer der Relativitätstheorien, ist etwas Relatives, abhängig vom Koordinatensystem. Witzigerweise lehren uns die Neurowissenschaftler heute, ein Jahrhundert später, dass unser Gefühl des

Jetzt erst nach einer eingebauten Verzögerung entsteht, wenn nämlich die unterschiedlich schnell arbeitenden Systeme im Gehirn synchronisiert worden sind. Unbewusst hat dabei der Kopf längst entschieden, obwohl das Bewusstsein immer noch meint, sich frei entscheiden zu können. Eine Beobachtung, die ähnlich revolutionär ist wie die Albert Einsteins.

Nur eine Minderheit der Kulturwissenschaftler nimmt die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaftler ernst. Zum Beispiel der Historiker Johannes Fried. Die Lehre vom freien Willen, so resümiert Fried als Konsequenz des neurologischen Befundes, sei ein "Implantat" im kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft wie im individuellen Gedächtnis des einzelnen Menschen.

Die Relativierung des Freien Willens aushalten

Philosophen, Historiker und Juristen müssen die Konsequenzen etwa einer Relativierung des Freien Willens ebenso aushalten wie die Theologen. Allenfalls können sie weitere Experimente fordern, aber die machen die Naturwissenschaftler sowieso. Ansonsten können sie zwar widersprechen, aber nicht widerlegen.

Ähnlich fruchtlose Debatten, die sich auf bloßen Widerspruch gründen, gab es bereits. Die Gesetze der Evolution, wie sie Darwin entdeckt hat, werden von den ganz Frommen in der Welt bis heute nicht anerkannt - in dem Glauben, Naturgesetze könne man ablehnen, wenn man die Mehrheit hat.

Es sollte nicht wieder Jahrhunderte dauern wie im Fall Galileis, ehe die katholische Kirche die neuen Beobachtungen zur Kenntnis nimmt.

Vermutlich könnte allerdings ein "Lehramt" die Erkenntnis nicht überleben, dass wir uns, weil unser Gehirn so gebaut ist, unsere Bilder von der Welt machen und dabei nicht einmal fähig sind, zwischen Phantasie und Erinnerung zu unterscheiden, wie uns die Gedächtnisforschung lehrt.

Das kann jedermann an sich selbst beobachten, wenn er nur versucht, einen Verkehrsunfall zu rekonstruieren. Unser Gedächtnis ist formbar wie Knetmasse, das ist ein experimentell beweisbarer Sachverhalt. Die Rechtswissenschaft nimmt ihn noch kaum zur Kenntnis, die Geschichtsforschung noch weniger.

Es kann aber nicht sinnvoll sein, ein Wissenschaftssystem beizubehalten, in dem Kulturwissenschaftler und Naturwissenschaftler mit wenigen gewichtigen Ausnahmen einander nicht zur Kenntnis nehmen, "nicht einmal ignorieren", weil sie in getrennten Welten leben.

Aufklärung darf nicht nur ein Gedanke sein, der in einem Immanuel-Kant-Gedächtnisjahr Gegenstand von klugen Feuilletons ist.

Ein unfrommer Wunsch. Denn weltweit sind jene besonders frommen Fundamentalisten im Vormarsch, denen unter anderem die Erkenntnis einer Evolution der Welt - das Gehirn eingeschlossen, wie wir jetzt wissen - nicht nur nicht ins eigene Weltbild passt, sondern die seine Verbreitung mit Gewalt verhindern wollen.

© SZ vom 22.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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