Bewältigung von Straftaten:Einmal Opfer - Immer Opfer

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Der Fall der Natascha Kampusch und jetzt der von Stephanie zeigen, dass mit der Tat das Leid für die Gequälten noch längst nicht vorbei ist.

Heribert Prantl

Wer gründlich über den Schutz der Opfer von Verbrechen nachdenken will, der muss sehr weit zurückdenken. Das Opfer ist nämlich auch ein Opfer des Strafrechts: Die Strafrechtsgeschichte war, bis in die jüngste Zeit hinein, die Geschichte der Verdrängung des Opfers aus dem Strafverfahren:

Opfer von Gewalttaten durchleben ihr Leid oft mehrfach. (Foto: Foto: Regina Schmeken)

Das Opfer, so sahen es die Juristen, stört dort nur den ordnungsgemäßen Ablauf der Dinge. So war es seit der Abschaffung der Privatfehde, seitdem also die Strafverfolgung nicht mehr Sache des Opfers und seiner Sippe ist, sondern die des Staats.

Die staatliche Strafverfolgung hatte einen Gründungsfehler: Sie achtete das Opfer nicht. So war das lange Zeit auch im aufgeklärten Strafprozess. Die Strafe diente der Befriedigung der beleidigten Rechtsordnung; im Mittelpunkt des Verfahrens stand der Täter. Das Opfer blieb Randfigur; war Zeuge, war Beweismittel; interessierte nur insoweit, als man es brauchte, um dem Täter per Urteil gerecht zu werden. Um den Täter kümmerte sich der Staat.

Um das Opfer kümmerte sich, so war es noch bis vor kurzem, allein der Weiße Ring. Es war und ist zwar richtig, dass Rachebedürfnisse eines Opfers in einem Rechtsstaat frustriert werden müssen. Aber ein Rechtsstaat muss sich dem Opfer fürsorglich zuwenden. Diese Zuwendung begann erst vor zwanzig Jahren, als das erste Opferschutzgesetz erlassen wurde.

Neue Methoden, um mehr übers Leiden zu erfahren

Der Umgang der Strafverfolgungsbehörden mit dem Opfer ist seitdem sensibler geworden. Exemplarisch zeigt sich das im Video-Vernehmungszimmer der Polizeipräsidien, das nicht aussieht wie ein Dienstzimmer, sondern wie ein Kinderhort: Dort versuchen Ermittlungsrichter, junge Opfer von Verbrechen dazu zu bringen, über ihr Leiden zu sprechen; die Videokamera ist im Teddybären versteckt.

Die Videovernehmung ist 1998 möglich geworden: Dem Opfer soll es erspart werden, mehrmals über den Tathergang berichten zu müssen, es soll nicht bei der Polizei, bei der Staatsanwaltschaft, beim Ermittlungsrichter und dann nochmal in der Verhandlung aussagen müssen; ihm soll die Konfrontation mit dem Täter möglichst erspart bleiben. Die einmalige Videovernehmung kann oft genügen. Das ist neu.

Aber es gibt heute ganz andere Konfrontationen: die Konfrontationen mit aggressiven Boulevardmedien und Magazinen, denen das Wort "Opferschutz" als Vorwand dient, sich beim Opfer und seinem Leid möglichst umfassend und auflagensteigernd zu bedienen. Das Opfer des Verbrechens: Nach der Tat muss es also sein Gesicht in die Kamera halten oder zumindest sein Leiden zum Nachlesen zur Verfügung stellen.

Detaillierte Berichte über die sexuellen Erniedrigungen (so im Fall Stephanie) kommen im Gewand des Mitleids daher; und es wird dabei so getan, als sei die vom Opfer zu duldende obszöne Schilderung von Obszönitäten dessen notwendige Gegenleistung für die öffentliche Abscheu, die den Täter trifft.

Jan Philipp Reemtsma hat im Buch über seine Entführung geschrieben, wie es ihm ergangen ist, als er das weltweit gedruckte Photo vom belgischen Mädchen Sabine Dardenne betrachtete (die ein ähnliches Schicksal wie Stephanie erlitten hatte): Weinend und verwirrt steht es da, befreit nach monatelanger Geiselhaft, in der es gequält und gefilmt worden war, und ein Polizist hält es so, als wolle er es festhalten, "damit es dem Fotografen zur Verfügung steht".

Das ist das Schicksal des Opfers: Es muss zur Verfügung stehen. Erst dem Täter, dann dem angeblichen öffentlichen Interesse an der Befriedigung von Neugier und Mitleid, und dann oft auch noch einer Politik, die zur Beruhigung des aufgebrachten Publikums neue Gesetze fordert. Schließlich muss das Opfer der Justiz zur Verfügung stehen, die es als Hauptzeugen braucht.

Anwälte arbeiten teilweise mit Medien zusammen

Nur auf dieser letzten Stufe der Verdinglichung des Opfers hat sich etwas gebessert: Polizei, Staatsanwaltschaft, Richter und Recht sind, wie gesagt, opferfreundlicher geworden.

Dafür aber ist der Medienzirkus, der die Opfer zur Schau stellt, viel schlimmer als früher; und einzelne sogenannte Opferanwälte opfern das Opfer ihrem Advokatenruhm und kooperieren zu diesem Zweck mit dem Medienzirkus: nicht um Druck auf die Richter zu erzeugen (die solchen wirklich nicht brauchen), sondern - wie im Fall Stephanie - um schrille Begleitmusik für Schadenersatzforderungen gegen den Staat zu machen.

Jan Philipp Reemtsma hat jetzt die Anwälte davor gewarnt, die ihnen anvertrauten Mandanten in Talkshows zu schicken: "Todesangst und totale Hilflosigkeit sind keine Erlebnisse, über die man mit einem Moderator plaudern kann. Und tut man es doch, wird man das Studio verlassen und sich im tiefsten Inneren missbraucht fühlen. Davor muss der Anwalt das Opfer schützen".

Im Fall Stephanie ist das nicht getan worden. Das wurde von verschiedenen Medien als Lizenz für publizistische Skrupellosigkeit betrachtet. Das Recht auf Opferschutz, wie es im Pressekodex verankert ist, gilt aber auch dann, wenn das Opfer es nicht ausdrücklich einfordert. Vielleicht sogar dann erst recht.

© SZ vom 14.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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