Asyl für Wildtiere:Problembären

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Susi lebte in einem Zwinger, Michal in einer 60-Quadratmeter-Betongrube: Wenn die Wildtiere im Müritzer Wald ankommen, haben sie ihr Trauma schon weg. Jetzt kann es nur noch besser werden.

Von Thomas Hahn

An einer Lichtung im Bärenwald Müritz zeigt der Tierpfleger Florian Rohkrämer auf die zerfurchte Wiese hinter dem Maschendrahtzaun. Diese kahle Spur, die wie ein kreisrunder Trampelpfad im Gras verläuft - das ist Claras Weg. Den hat die Bärin selbst angelegt, weil sie nach ihrer Befreiung nicht anders konnte. Sie kam 2013 mit ihrer Mutter Mary und ihrer Schwester Sonja aus dem Tierpark in Mönchengladbach. Dort hatte sie seit ihrer Geburt 1992 in einem engen Gehege mit Betonboden gelebt, hatte Langeweile und trotzdem auch Stress, weil sie sich vor den Blicken der Tierparkbesucher kaum schützen konnte. Um sich abzulenken, ging sie auf einer Betonrampe ständig im Kreis, pausenlos. Es war, als würde sie weglaufen, ohne vom Fleck zu kommen. Und obwohl sie im Bärenwald Müritz auf einmal viel Platz hatte, Waldboden unter den Tatzen und Bäume um sich herum, kam sie nicht gleich zur Ruhe. Stundenlang ging sie auf der Lichtung im Kreis, bis kein Gras mehr wuchs auf ihrem Weg.

Stereotypes Verhalten nennt man das, wenn Tiere ohne Zweck immer wieder das Gleiche tun, im Kreis laufen, auf kurzer Strecke hin und her wandern oder den Kopf wiegen. Es ist das Symptom einer Seelennot von Wildtieren, denen der Mensch keinen natürlichen Lebensraum zugesteht. Die Beziehung des Menschen zu den Tieren wirkt manchmal wie die eines eifersüchtigen Ehemanns zu seiner lebenslustigen Frau. Er liebt sie so sehr, dass er sich an sie klammert, sie einengt, und gar nicht merkt, wie schlecht es ihr dabei geht.

Wenn der Mensch über sie verfügen will, muss er ihren Willen brechen

Manche Tiere haben sich im Laufe der Evolution so sehr an die Bedürfnisse der Menschen angepasst, dass sie bei richtiger Haltung ein gutes Leben mit ihnen haben können; Hunde etwa, Katzen oder Pferde. Aber die sogenannten Wildtiere haben Ansprüche, die sie sich nur in Freiheit erfüllen können. Braunbären zum Beispiel sind Einzelgänger, die auf ihrer Suche nach Nahrung kilometerweit durch die Wälder ziehen. Wenn der Mensch über sie verfügen will, muss er ihren Willen brechen. Das macht die Bären krank und verrückt.

Allmählich verbreitet sich ein Bewusstsein für die Nöte von Wildtieren in Gefangenschaft. Das hat auch mit einer Einrichtung wie dem Bärenwald Müritz zu tun. Denn der ist nicht nur ein Asyl für traumatisierte Braunbären. Er ist auch ein Ort, an dem Menschen ein Gespür dafür bekommen, was es für einen Unterschied macht, ob ein Wildtier hinter Gittern oder unter echten Bäumen lebt. Carsten Hertwig, der Geschäftsführer des Bärenwalds, sagt: "Wir betreiben Tierschutzbildung." Und ein bisschen machen sie auch Politik. Ein Schild wirbt für ein Wildtierverbot im Zirkus, das Länder wie die Niederlande oder Norwegen schon haben, Deutschland aber nicht.

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(Foto: VIER PFOTEN/Bärenwald Müritz)

Er ist der Bär mit der härtesten Lebensgeschichte: Der einbeinige Michal im Müritzer Wald.

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(Foto: VIER PFOTEN/Bärenwald Müritz)

Im Zoo von Braniewo, Polen, lebte Michal einst in einer 60-Quadratmeter-Betongrube. Sein rechtes Vorderbein verlor er dort im Kampf mit einem anderen Bären.

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(Foto: VIER PFOTEN/Bärenwald Müritz)

Abschied vom Zoo: Die Bären Sonja, Clara und Mary in Mönchengladbach. Am nächsten Tag wurden sie in den Müritzer Wald gebracht.

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(Foto: VIER PFOTEN/Bärenwald Müritz)

Die Bärin Hanna hat leichte Allüren. Statt der vorwiegend pflanzlichen Kost, isst sie mit Vorliebe gekochtes Huhn.

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(Foto: picture alliance / dpa)

Auch im Bärenwald Müritz leben die Bären zwischen Zäunen. Aber die Gehege sind so groß, dass sie sich fast wie in Freiheit fühlen können.

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(Foto: dpa)

Gerettete Bären haben oft Diabetes, Übergewicht, schlechte Zähne von falschem Futter. In Mürritz sollen sie ihr natürliches Verhalten wieder lernen.

Die Tierschutzorganisation Vier Pfoten hat den Bärenwald 2007 in der Gemeinde Stuer eröffnet, mitten im abgelegenen, waldreichen Gebiet des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte. Er wurde seither erweitert und beherbergt heute auf 12,5 Hektar 16 Braunbären, die Vier Pfoten alle aus prekären Haltungen übernommen hat. Die Organisation wacht über das Wohl der Bären in Gefangenschaft, greift zu, wenn sie kann, und verpflichtet frühere Halter per Vertrag, keine Bären mehr unterzubringen. Erst im Frühjahr trug sie dazu bei, dass Ben vom Zirkus Alberti, angeblich der letzte aktive Zirkusbär Deutschlands, vom Veterinäramt in Deggendorf wegen schlechter Haltung beschlagnahmt und in den Gnadenhof für Bären von Bad Füssing entlassen wurde.

Auch im Bärenwald Müritz leben die Bären zwischen Zäunen. Aber die Gehege sind so groß, dass sie sich fast wie in Freiheit fühlen können. Rund 80 000 Besucher kommen jährlich in den Bärenwald. Sie streifen über die befestigten Wege an den Zäunen entlang. Und erleben mit etwas Glück, wie der verspielte Balou, ehemals die Attraktion des Wildgeheges in Hellenthal, einen von Insekten übersäten Baumstamm abschleckt. Oder wie die alte Bärendame Susi, bis 2007 Insassin im Stadtzwinger von Merseburg, ein Bad im Bach nimmt. Nur in der kalten Jahreszeit sieht man hier kaum Bären. Dann halten die meisten Winterruhe.

Ein Junge stellt sich Tierpfleger Florian Rohkrämer in den Weg und fragt: "Warum hat der Bär sein Bein verloren?" Der Junge hat Michal gesehen, den Bären mit der härtesten Lebensgeschichte im Müritzer Wald. Im Zoo von Braniewo, Polen, lebte Michal einst in einer 60-Quadratmeter-Betongrube. Sein rechtes Vorderbein verlor er dort im Kampf mit einem anderen Bären. In Braniewo humpelte Michal den ganzen Tag im Kreis. Im Bärenwald zeigt er, dass auch ein Bär mit Behinderung Höhlen graben kann.

Bärenschicksale. Es gibt schlimmere als die der Bewohner im Bärenwald Müritz. In Belitsa, Bulgarien, unterhält Vier Pfoten mit der Brigitte-Bardot-Stiftung einen Park für frühere Tanzbären, deren Halter sie einst am Nasenring durch die Amüsiergesellschaft führten. Das Tanzen haben diese Bären gelernt, indem man sie bei laufender Musik auf heiße Herdplatten schickte und so lange vor Schmerz von einer Tatze auf die andere springen ließ, bis sie das auch ohne Herdplatten taten, sobald besagte Musik erklang. "Diese Bären hatten es wirklich übel", sagt Rohkrämer. Tanzbären gibt es im Müritzer Bärenwald nicht. Aber zwei Restaurant-Bären, Mascha und Otto aus Sachsen-Anhalt, die ein Privatbetreiber für seine Gäste hinter Gittern hielt. Die anderen kommen aus Zoos und Tierparks. Sie haben teilweise zehrende Zeiten hinter sich wie Katja, die mal eine Zirkusbärin war und anschließend in einer Art Terrarium in Kalletal landete.

Es geht eine eigene Faszination von den Bären aus. Sie sind stark und gefährlich, aber auch gemütlich und warm. Weil Bären auf zwei Beinen stehen können und über eine gewisse Fingerfertigkeit verfügen, erkennt sich der Mensch in ihnen wieder. Und im Vergleich zu anderen Raubtieren sind Bären leicht zu halten: Bären sind Allesfresser, man kann sie auch mal mit verschimmeltem Brot und Dreingaben der Besucher durchbringen. Aber die Folgen fürs Tier sind fatal, nicht nur wegen der seelischen Pein. Gerettete Bären haben oft Diabetes, Übergewicht, schlechte Zähne. Pfleger und Tierärzte sind im Bärenwald sehr beschäftigt mit der angeschlagenen Gesundheit der Ankömmlinge. Und sie erleben dabei Überraschungen: Als Hannes im Frühjahr 2014 aus dem Tierpark Wolgast kam, sollte er kastriert werden. Aber das ging nicht, denn Hannes war gar kein Männchen. Aus Hannes wurde Hanna. Und Hanna, die hat leichte Allüren. Statt der vorwiegend pflanzlichen Kost isst sie mit Vorliebe gekochtes Huhn.

Es gibt keine Schaufütterungen im Bärenwald. Die Pfleger verteilen das Futter im Wald, spießen es auf Äste, befüllen damit Spielzeug für die Wildtiere. Das fordert Körper wie Geist der Bären - und fördert ihr natürliches Verhalten. Selbstbewusste und halbwegs eigenständige Bären sollen sie in Stuer werden. Aber das Trauma der Vergangenheit sitzt tief. "Das zu beheben kann sehr lange dauern", sagt Carsten Hertwig, "oder es kann bestehen bleiben."

Clara ist wieder auf ihrer Runde. Bedächtig trottet sie im Kreis über den kleinen Pfad, den sie selbst in die Wiese gelaufen hat. Sie dreht noch eine Runde und noch eine. Findet sie wieder raus aus ihrem Trott? Dann biegt sie zurück auf die Wiese und verschwindet im Unterholz. Ihre Retter können sich freuen. Für Clara führen mittlerweile viele Wege durch den Bärenwald.

© SZ vom 20.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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