Amoklauf von Winnenden:Straftaten ohne Strafe

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Winnenden und die Schuldfrage: Der Vater des Amokschützen hat fahrlässig gehandelt, als er die Waffe nicht wie vorgeschrieben weggesperrt hat. Aber muss der Staat ihn dafür bestrafen?

von Heribert Prantl

Muss der Staat diesen Mann noch strafen? Ist er nicht schon genug gestraft? Sicher: Er war fahrlässig; er hat seine Waffe nicht wie vorgeschrieben weggesperrt; er hat sie in seinem Schlafzimmer herumliegen lassen. Das nennen Juristen Fahrlässigkeit.

Mehrere Tage nach dem Amoklauf versucht Winnenden, die Trauer gemeinsam zu bewältigen. (Foto: Foto: dpa)

Und weil der Sohn, der Amokläufer von Winnenden, mit dieser Waffe fünfzehn Menschen und sich selbst erschossen hat, ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den Vater wegen fahrlässiger Tötung in sechzehn Fällen. Das ist juristisch so geboten.

Aber: Welchen Sinn macht hier noch Strafe? Der Sohn ist tot, und er hat mit seinen Mordtaten auch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Existenz seiner Eltern im Tatort ruiniert. Sind sie nicht genug geschlagen?

Hat die Sorglosigkeit des Vaters nicht schon furchtbar genug auf ihn zurückgeschlagen? Das Recht ist nicht roh.

Es gibt Situationen, in denen Strafe ins Leere geht - weil der Täter durch die Tatfolgen, die ihn treffen, sich gewissermaßen schon selbst bestraft hat.

Das Strafgesetzbuch sieht daher in Paragraph 60 vor, dass das Gericht von Strafe absieht, "wenn die Folgen der Tat, die den Täter getroffen haben, so schwer sind, dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre".

Jährlich sind es einige hundert Straftaten in Deutschland, die deshalb ohne Strafe bleiben.

Es sind dies Fälle wie folgt: Die fahrlässige Trunkenheit am Steuer hat zu schweren Verunstaltungen im Gesicht des Fahrers geführt, der diebische Fassadenkletterer ist abgestürzt und fortan gelähmt; der fahrlässige Brandstifter hat mit seiner Tat auch den eigenen Betrieb zerstört; bei einem durch grobe Unachtsamkeit verschuldeten Verkehrsunfall kommen die Braut und der Vater des Fahrers ums Leben; die zum Selbstmord entschlossene, depressive Mutter tötet zuvor ihr Kind, überlebt aber selber.

Die Richter haben in diesen Fällen die Täter zwar schuldig gesprochen und ihnen die Verfahrenskosten auferlegt, aber nach Paragraph 60 von Strafe abgesehen. Im Urteil muss ausgeführt werden, welche Strafe "an sich" verwirkt gewesen wäre. "Absehen von Strafe" ist nämlich nur dann zulässig, wenn die an sich fällige Strafe nicht mehr als ein Jahr betragen hätte.

Wenn alle Strafzwecke als sinn- und zwecklos entfallen, ist auch jede Strafe sinn- und zwecklos. Der einschlägige Paragraph 60 ist also ein Mikrokosmos aller Strafzwecke: Wenn von Strafe abgesehen werden soll, müssen zuvor alle denkbaren Strafzwecke abgefragt werden.

Also: Muss der Vater des Amokschützen durch eine Strafe resozialisiert werden? Braucht er einen gerichtlichen Denkzettel? Ist Geldstrafe oder Haft zur Verteidigung der Rechtsordnung geboten? Ist sie aus Gründen der Generalprävention wichtig? Muss der Allgemeinheit also mit einer Bestrafung noch klargemacht werden, dass man Schusswaffen wegsperren muss? Das Gericht wird dann von Strafe absehen, wenn sich auf all diese Fragen ein "Nein" aufdrängt.

Eine Straftat ohne Strafe tangiert freilich Grundprinzipien des Strafrechts. Kritiker monieren daher einen Verstoß gegen die Rechtsgleichheit: Wenn der Richter von Strafe absieht, weil der Täter am den Folgen seiner Tat schwer leidet - bleibt dann nicht, so fragt der Ordinarius Manfred Maiwald, "ein Stück Ungerechtigkeit im Vergleich zu jenen anderen, die - paradox gesprochen - nicht das Glück hatten, sich durch die Tat selbst Schaden zuzufügen?"

Die Lösung des Fahrlässigkeits-Falles Winnenden ergibt sich wohl aus dieser Kritik: weil sich das Wort "Glück" in diesem Zusammenhang verbietet.

© SZ vom 18.03.2009/hai/odg - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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