Aids: Warum die Infektionszahlen wieder stark steigen:Blind vertrauen auf den Cocktail

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Im Rückblick kann er nicht mehr sagen, wann genau die Angst eigentlich weg war. Mitte der Neunziger? Als das Thema aus den Medien verschwand, weil die Zahl der Toten stetig abnahm? Ende der Neunziger, als die Medikamente so gut wurden, dass manche schon hoffnungsvoll von Heilung sprachen?

Tanja Rest

Anfang 2000, als die Jungen nichts mehr wussten vom großen Sterben und die, die sich erinnern konnten, dachten: Scheiß drauf? Die Angst verschwand nicht einfach. Sie stahl sich davon. Irgendwann war sie nur noch das Gespenst einer anderen Zeit. Er sagt: "Mittlerweile geh' ich auf Sex-Partys und denke: Bin ich hier eigentlich der einzige, der noch ein Kondom in der Tasche hat?"

Im ersten Halbjahr 2005 gab es in Deutschland um 20 Prozent mehr Neuinfektionen als im Vergleichszeitraum des Vorjahres (Foto: Foto: ddp)

Nachmittag, ein Schwulenbistro im Düsseldorfer Bahnhofsviertel; am Tresen liegt das Szeneblatt Exit, auf Seite 22, unten rechts im Kleingedruckten, stehen die Zahlen. "Robert-Koch-Institut... Zahl der HIV-Infektionen in Deutschland im ersten Halbjahr 2005 weiter angestiegen... um 20 Prozent höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres... Männer mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten mit nahezu 60 Prozent der Neu-Infektionen die größte Betroffenengruppe... Anlass zur Sorge... ist das Risiko, sich mit HIV zu infizieren, für Männer mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten aktuell so groß wie nie... nämlich fast doppelt so hoch wie noch vor vier Jahren."

Ralph, wie er hier heißen soll, ist 35 Jahre alt, ausgebildeter Orchestermusiker, schwul. Er sagt, die Zahlen überraschen ihn: "Mich überrascht, dass die nicht noch krasser sind."

Das große Aufatmen

Ralphs Geschichte klingt wie die Chronik einer angekündigten Krankheit. Schon 1983, als er die Dr.-Sommer-Seite der Bravo aufschlug und von einer rätselhaften Immunschwäche las, die vor allem Schwule befällt, habe er geahnt, dass es ihn früher oder später erwischen würde. Von da an wusste er auch, dass er ein Kondom benutzen musste. Und er versuchte es. Doch es gelang nicht immer.

Anfang der Neunziger war das Thema Aids überall präsent, "die Leute von der Aids-Hilfe standen in der Fußgängerzone, in der Kneipe wurde da drüber geredet, auf dem Klo hingen die Plakate, ohne Gummi bist du nicht mehr aus dem Haus gegangen." Aber - was der Hetero-Bevölkerung wohl nie bewusst war, obwohl es für sie im gleichen Maße gilt: Safer Sex ist für Schwule auch in den schlimmsten Zeiten von Aids nie zur Selbstverständlichkeit geworden. Und wurde es, als diese Zeiten vorbei waren, immer weniger.

Promiskuität machte Spaß

Mitte der Neunziger ging das große Aufatmen durch die Szene. Die ersten wirksam lebensverlängernden Medikamente standen in den Apotheken, die neue Sorglosigkeit brach an, Promiskuität machte wieder Spaß. Ralph hatte mal zwei, mal zwanzig sexuelle Kontakte im Monat, meistens mit, manchmal ohne Kondom.

Wenn Schwulenzeitschriften wieder eine Aids-Geschichte druckten, blätterte er um. Wenn er einen Freund besuchte, und da standen die Medikamente auf dem Tisch, schaute er weg. "Ich hab' versucht, das auszublenden." Er brauchte Jahre, um den Mut aufzubringen, zum HIV-Test zu gehen, und dann brauchte er ein halbes Jahr, um das Ergebnis abzuholen. Es war der 4. Juni 1998, der Tag nach dem Zugunglück von Eschede. Und Ralph war positiv.

"Wenn mir an dem Tag einer gesagt hätte, ich würde in meinem Leben nochmal 'ne Nummer ohne Gummi machen, hätte ich dem den Mittelfinger gezeigt."

Aber die Welt, in der einer wie Ralph jetzt das HI-Virus hat, ist eine andere als vor zehn Jahren. Schwulsein ist endgültig raus aus der Schmuddelecke. Das Versteckspiel ist vorbei, die Szene offen, gut organisiert und aktiv wie nie. Wer Sex haben will, kriegt ihn. Überall.

Es gibt die Dark Rooms bestimmter Schwulenbars, schwule Saunen, kommerzielle Sex- und Fetisch-Feste. Es gibt längst Gay Chats im Internet. Im Forum von gayromeo.de sind an einem Werktagnachmittag nur in Berlin mehr als 2000 User online, jeder mit Steckbrief abrufbar. Alter, Größe, Aussehen, Hobbies, Vorlieben; unter anderem Safer Sex, wahlweise: "Immer" / "Nach Absprache" / "Niemals". Es geht auch darum, Leute kennen zu lernen und sich zu verabreden. Aber es geht vor allem um Sex auf die Schnelle. "Du kannst da alles bekommen, worauf du grade Lust hast", sagt Ralph.

"Habt ihr alle `nen Knall"

Hier muss man darauf hinweisen, dass Ralph hier nur für sich stehen kann. Nicht für "die" schwule Szene, schon gar nicht für "den" Schwulen an sich. Er selbst sagt es mehrmals: "Ich kann nicht für die anderen sprechen. Ich kenne viele Schwule, die leben ganz anders als ich. Die sind seit Jahren in einer festen Beziehung, haben den HIV-Test gemacht, haben ihren Job, ihren Freundeskreis. Die würden nicht im Traum daran denken, in einen Dark Room zu gehen."

Im Jahr 2000 zog Ralph nach Berlin, dort wurden die ersten "Bareback"-Parties gefeiert. Das ist ein Begriff aus der Reitersprache, zu deutsch: Reiten ohne Sattel. Bareback-Partys sind Sexfeste ohne Gummi. "Ich dachte, was ist denn hier los, habt ihr eigentlich alle 'nen Knall?" Heute gibt es Barebacks in praktisch jeder deutschen Metropole, und Ralph wundert sich, dass sie ganz gut besucht sind. "Warum Eintritt zahlen, wenn du das Gleiche, gratis, eh an jeder Ecke kriegst?"

Was sein Verhalten seit dem Testergebnis angeht, ob Sex mit Kondom für ihn wirklich Pflicht geworden ist, wie er das angenommen hatte, so muss man wieder sagen: Er versucht es. Es gelingt nicht immer. "Da gibt's Jungs im Dark Room, die drehen sich regelrecht um und gehen weg, wenn du den Gummi rausziehst. Die sagen: Sorry, ich steh' nicht auf Kondom, und lassen sich vor deinen Augen von einem anderen ficken. Das machst du ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Beim zehnten Mal denkst du: Mach' ich mich hier zum Affen oder was? Die Leute, mein Gott, die denken nicht nur nicht dran, denen ist das Thema Aids einfach scheißegal."

Beim zehnten Mal hatte Ralph dann Sex ohne Gummi.

Er weiß, dass er möglicherweise viele Menschen angesteckt hat. Er sagt, dass er deshalb ein schlechtes Gewissen hat und nächtelang nicht schlafen kann, "ich meine: Wie fertig muss man sein?" Er sagt aber auch, dass die anderen irgendwo selbst schuld seien. "Ich versuche schon, Verantwortung zu übernehmen. Aber wenn dir einer den Gummi sogar noch runterzieht, der will doch nicht geschützt werden. Na gut, bitte. Hab' ich halt auch meinen Spaß." Ob Ralph, bevor der Spaß losgeht, dem anderen schon mal gesagt hat, dass er positiv ist? "Nein..."

Seit fünf Jahren nimmt Ralph die Medikamente. Drei Tabletten morgens, zwei abends, alle paar Monate ein Arztbesuch, um prüfen zu lassen, ob der Cocktail noch wirkt. Noch wirkt er.

Vom fitten und erfüllten Hochleistungs-Infizierten, wie ihn die Pharma-Industrie propagiert, ist er dennoch weit entfernt. "Die Zukunft erleben, die Gegenwart vereinfachen", lautet der Slogan einer viel kritisierten Anzeigen-Kampagne des amerikanischen Pharma-Riesen Bristol-Myers Squibb. Zu sehen sind zwei entspannte Männer beim Kochen ("Zeit füreinander"); ein Mann beim Joggen ("Aktiv leben"); ein Mann am Flughafen-Terminal, Laptop auf den Knien ("Wieder bei der Arbeit"). Ralph aber hat nicht mehr viel Kraft für Sport, und als Orchestermusiker arbeitet er schon lange nicht mehr. Der Antrag auf Frührente läuft seit zwei Jahren. Die Chancen stehen gut.

Alle wissen Bescheid

Die Dreier-Kombi hält ihn am Leben und macht es gleichzeitig kaputt. Er leidet unter Taubheitsgefühlen, Konzentrationsschwäche, Potenzproblemen, Kräftemangel und Lipodystrophie, anschaulicher "Büffelnacken-Syndrom" genannt.

Manche Medikamente haben den Nebeneffekt, Körperfett umzulagern: Arme, Gesicht und Hintern magern ab, Bauch und Nacken schwellen an. Bei Ralph sieht man das bisher nur ein wenig, an den eingefallen Wangen. "Ich hatte mal ein ziemlich rundes Gesicht. Steht mir doch ganz gut so, oder?", sagt er und lächelt klein.

Müsste vielleicht entschiedener auf die Nebenwirkungen der Medikamente hingewiesen werden, um für Safer Sex zu werben? "Der erhobene Zeigefinger bringt nichts. Die Leute würden wegschauen, wie ich das gemacht habe." Fehlt es an Aufklärung? "Quatsch, sogar die Jungen wissen bestens Bescheid."

Gibt es einen anderen Weg? Ralph glaubt, dass vielleicht erst das Super-Virus kommen muss; dass Leute womöglich wieder in großer Zahl sterben müssen, damit die Überlebenden Konsequenzen ziehen. Er sagt: "Ich möchte kein So zialarbeiter bei der Aids-Hilfe sein und Präventionsarbeit machen müssen."

Abend. Das Bahnhofsviertel, ein paar Straßenzüge weiter. In der Schwulenbar "Seitensprung" hängen entlang der Treppe zur Toilette schwarzweiße Männer-Akte, pralle Bizepse, muskulöse Torsi, Waschbrettbäuche. Über einem makellosen Hintern steht: "Manche Entscheidungen sollten Sie besser nicht mit dem Kopf treffen."

Das ist ungefähr das Gegenteil von dem, was Marco Grober sagt. Sein Job ist es, die Leute wieder dazu zu bringen, manche Entscheidung besser nicht mehr aus dem Bauch heraus zu treffen. Marco Grober, 32, Diplom-Pädagoge, seit sechs Jahren bei der Aids-Hilfe. Und nein, es ist wirklich kein leichter Job.

Neue Hemmungslosigkeit

Grober macht Streetwork, er schlägt die Brücke von der Düsseldorfer Aids-Hilfe zur Szene. Mehrmals jede Woche ist er in Schwulen-Bars und -Kneipen unterwegs, wobei er die Gäste nie direkt auf HIV anspricht. "Das würde nicht funktionieren. Manche denken ja sogar: Wenn ich mit dem rede, sieht das so aus, als sei ich infiziert." Er ist vor allem einfach anwesend, wenn es gut läuft, vertrauen ihm die Leute und kommen vielleicht mal zur Beratung. Oder erinnern sich wenigstens kurz daran, dass Aids noch existiert.

Marco Grober hört sich die Geschichte von Ralph ziemlich gelassen an: "Klar, so läuft das zurzeit, der Mann ist kein Einzelfall." Auch er berichtet von einer neuen Hemmungslosigkeit der Szene, auch er wundert sich, dass die Infizierten-Zahlen nicht noch höher sind. Die Ursachen für den auffälligen Anstieg von HIV bei den Schwulen und Bisexuellen kann er aus dem Effeff herunterbeten, und er fängt bei der Angst an.

40 Jahre hin oder her

"Diese Todesangst in den Achtzigern: Man darf nicht unterschätzen, was die bei den Leuten ausgelöst hat. Die Szene war regelrecht traumatisiert, da gab's keinen Spaß mehr am Sex." Und dann, endlich, die Medikamente. Er sagt, es sei wie bei einem Pendel gewesen, das von einem Extrem ins andere schwingt.

"Plötzlich schien es gar nicht mehr so schlimm zu sein, positiv zu sein. Man konnte ja erstmal weiterleben." Plötzlich hieß es, jetzt erst recht. 100Prozent Spaß! Und Sex sei dann einfach so konsumiert worden. "Die ganzen Saunas, Dark Rooms, Fickschuppen: Die Läden, wo man unmittelbar Geschlechtsverkehr haben kann, die laufen zurzeit am besten." Der Teufelskreis von HIV: Dank ständig besserer Medikamente leben die Infizierten immer länger; so gelangen immer mehr Viren in die Szene; und weil dort auch mehr Sex stattfindet, infizieren sich immer mehr Menschen.

Natürlich wissen alle, dass sie nach wie vor ein Kondom benutzen müssten. "Aber man darf nicht vergessen, dass es hier um den intimsten Bereich geht. Wo man sich ja eigentlich ganz gehen lassen will." Welche Disziplin Safer Sex erfordert, auch für Heteros, sei lang völlig unterschätzt worden, sagt Grober.

Hinzu komme ein heikler Jugendwahn, "diese gerade bei den Jungen sehr verbreitete Haltung: die volle Ladung Fun jetzt - wenn ich 50 bin, hab' ich eh das Beste hinter mir." Hier schaltet sich ein Mann ein, der am Tisch sitzt und bisher nur zugehört hat. "Ich hab' mal so einen Jungen, der's ganz wild getrieben hat, drauf angesprochen", erzählt Mario Schultz. "Und der sagte: Jetzt bin ich 20; wenn ich mich mit 30 infiziere und mit 40 sterbe, falls es dann noch kein Heilmittel gibt: okay. Waren das halt 40 geile Jahre."

Es ist ein schmaler Grat, auf dem Streetworker Marco Grober balanciert. Abschreckung funktioniert nicht, er muss anders bei der Risikogruppe ankommen. Also Aufklärung durch die Hintertür, "Preventainment" nennen sie das. Das Präventions-Team läuft mit "Was ist AIDS?"-Shirts durch die Szene, sie verteilen Kondome und Gleitmittel, treten beim Christopher Street Day auf, organisieren Safer-Sex-Partys.

"Wir wollen diejenigen, die geschützten Geschlechtsverkehr praktizieren, darin bestärken. Und den anderen vermitteln: Versuch's weiterhin." Grober weiß, dass das nicht furchtbar viel ist. Er geht davon aus, dass die HIV-Zahlen weiter steigen werden. "Klar, ich kann nachts 2000 Kondome über Düsseldorf abwerfen. Aber ob die auch benutzt werden, darauf hab' ich keinen Einfluss."

Am Ende muss jeder für sich selbst entscheiden, ob "40 geile Jahre" nicht ein paar Jahrzehnte Leben zu wenig sind.

© SZ vom 29.11.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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