Ältester Kinobesitzer Deutschlands:Der Filmverführer

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Walter Jonigkeit, der älteste aktive Kinobesitzer der Republik, hat fast die gesamte deutsche Filmgeschichte miterlebt - an diesem Dienstag wird er 100 Jahre alt.

Christian Mayer

Monumentales Kino musste es sein: Charlton Heston als stählerner Ben Hur im Staub vor Jerusalem, Liz Taylor als strahlend schöne Cleopatra, die mit einem Wimpernschlag Cäsaren erobert.

Sandalenfilme mit überlebensgroßen Hollywoodstars spielte Walter Jonigkeit besonders gerne auf seiner großen Leinwand, da war das Haus immer voll. Damals stiegen die Westberliner am Bahnhof Zoo aus, sie bogen Händchen haltend in die Kantstraße ein und gingen am Theater des Westens vorbei, um sich in die Schlange vor dem "Delphi Filmpalast" einzureihen.

Bei "Ben Hur" wollte der Strom der Zuschauer gar nicht mehr nachlassen, ein Jahr lang stand das Drama auf dem Spielplan, aber das war noch nichts gegen "Vom Winde verweht", das zweieinhalb Jahre lang in der "Kurbel" am Ku'damm lief, bis die Konkurrenten rebellierten.

Goldene Zeiten, Walter Jonigkeit hat sie alle erlebt. Er sitzt am Schreibtisch in seinem Büro im ersten Stock, so wie jeden Tag. Sogar am Wochenende arbeitet der Chef von halb neun bis vier Uhr nachmittags im "Delphi"; er zählt jeden einzelnen Besucher und trägt die Zahlen für jede Vorstellung mit einem feinen Stift in seine Mappe ein. "Ich weiß immer, welche Filme gehen und welche nicht. Obwohl ich die heutigen Schauspieler leider nicht mehr kenne", sagt er. Zu laut, zu schnell sind die Filme heute; zu viele Schnitte für einen Veteranen wie ihn.

Im Zentrum der Hauptstadt

An diesem Dienstag wird Deutschlands ältester aktiver Filmunternehmer 100 Jahre alt. Jonigkeits Stimme ist hell und ein wenig brüchig, aber er ist hochkonzentriert, wenn er über seine Karriere als Kinopionier spricht. Neben ihm wacht seine Ehefrau Renate, die vier Jahrzehnte jünger ist und zu Hilfe eilt, wenn die Erinnerung stockt. Wie er zum Film gekommen ist? Zufall. War gerade eine Stelle frei bei der Trianon-Filmgesellschaft. 1926 war das, der Stummfilm war auf dem Höhepunkt, Charlie Chaplin eierte sprachlos über die Leinwand.

Jonigkeit lernte alles, was in diesem jungen Geschäft wichtig war, er wurde Filmkaufmann und erwarb 1934 sein erstes Kino, die "Kamera" Unter den Linden. Er hatte damals schon gute Kontakte und ein Gespür für Werbung: Heinrich George, den populären Proletarier Franz Biberkopf aus "Berlin Alexanderplatz", holte er mit der Bahn aus seinem Atelier in Oberschönewalde ab, um ihn an das Versprechen zu erinnern, die Zuschauer persönlich zu begrüßen.

Der Kinobetreiber profitierte von der Lage: Die "Kamera" lag im kulturellen Zentrum der Hauptstadt, in dem die emigrierten jüdischen Filmemacher eine Lücke hinterlassen hatten. Berühmtheiten wie Gustaf Gründgens, Marianne Hoppe und Emil Jannings, die gleich nebenan Theater spielten, waren bei Jonigkeit zu Gast, immer umringt von Autogrammjägern.

Eines Abends hatte er eine Idee, als er auf den Spielplan der Staatsoper Unter den Linden schaute. Dort liefen im Wochenrhythmus ältere Produktionen, so wollte es Jonigkeit auch machen. Er eröffnete ein zweites Lichtspielhaus: die "Kurbel" in Charlottenburg - sein erstes Programmkino. In beiden Häusern zeigte er auch französische und amerikanische Filme, für eine Reichsmark die Karte. Im Krieg verschwand die westliche Ware.

Und das deutsche Kino, das zwischen NS-Propaganda, Kitsch und gehobener Unterhaltung schwankte, war nicht nur in seiner Freiheit, sondern in seiner Substanz bedroht.

Bei einem Luftangriff wurde die "Kamera" samt der schönen Wurlitzerorgel zerstört. Immerhin, die "Kurbel" überstand den Bombenhagel, dort konnte Jonigkeit 1945 bald russische Filme vorführen, die er aus dem Ostteil der besetzten Stadt mit dem Fahrrad abholte. "Die Leute wollten Ablenkung um jeden Preis, die wollten aus ihren Kellern raus."

Aus den Trümmern eines Tanzpalastes baute sich der Unternehmer ein Filmtheater mit der größten Leinwand der Stadt. Zur Eröffnung 1949 servierte er "Lord Nelsons letzte Liebe" mit Vivien Leigh und Laurence Olivier - ein Gesellschaftsereignis für Berlin. Noch heute kann man in der Kantstraße einen trutzigen Filmpalast bewundern, in dem die zwei Tonnen schwere Rosettenleuchte an der Decke nostalgischen Schimmer verbreitet.

Die Leute kommen, weil sie hier nicht wie im Multiplex mit Popcorn und Popcornfilmen abgespeist werden, sondern die Gediegenheit einer untergegangenen Kinohochkultur genießen können. Das "Delphi" ist ein Theater, die Wände sind mit Samtstoffen eingeschlagen, Liselotte Pulver grüßt aus dem Berlinklassiker "Eins, zwei, drei" - obwohl die Filmrolle seinerzeit rasch im Archiv verschwand: Im Spätsommer 1961, als die Berliner Mauer die Menschen auseinanderriss, kam Billy Wilders bitterböse Ost-West-Komödie gar nicht an.

"Cinema Paradiso", sein Lieblingsfilm

Früher, sagt Jonigkeit, war es leichter, ein Großkino mit 1071 Plätzen vollzukriegen. Der Berliner verhandelte direkt mit Agenten der US-Verleiher, die zum Probesitzen anreisten und ihn sogar nach Hollywood einluden - damit er Filme wie "Der längste Tag" oder "My Fair Lady" ins Programm nahm. "Ja, es war ein gutes Geschäft", sagt er. Manchmal griff er auch daneben.

Zum Beispiel wollte er nie Kinderfilme zeigen. "Das doppelte Lottchen", ein Kassenschlager, entging ihm. Auch "Der dritte Mann" mit Orson Welles missfiel Jonigkeit, die Zithermusik war nicht ganz nach seinem Geschmack. Pech gehabt. Es gab jedoch genug Erfolgsgeschichten, und so eröffnete er in München das "City-Kino" und in Hamburg das schöne "Savoy".

Das "Delphi" blieb das Herz des Unternehmens und diente als Spielort für die Filmfestspiele, und heute kann Jonigkeit stolz in seiner Fotosammlung blättern, die ihn mit Gary Cooper, James Stewart, Ava Gardner oder der jungen Barbara Rütting zeigen.

Auch die Sittenwächter schauten gelegentlich vorbei, als Jonigkeit in den sechziger Jahren die Sexfilmchen der Kolle-Generation ins Programm hob. In der "Kurbel" musste das Publikum streng getrennt nach Geschlechtern Platz nehmen. "Mein Gott, waren die harmlos, die Filme, aber dir waren sie schon etwas peinlich", ergänzt seine Frau Renate, die mal als Platzanweiserin bei ihm angefangen hat und ihre Berliner Schnauze kultiviert: ,,Damals hieß es: Wenn bei den Kontrolleuren der Hut hochgeht, wird der Film verboten.''

Was er am Kino liebt? Jonigkeit, der als ehemaliger Hockeyspieler sehr aufrecht in seinem Sessel thront, muss überlegen. "Alle sind konzentriert, alles ist ruhig." Einen Film im Fernsehen anschauen? Hatte er nie nötig. Wäre doch eine Qual. Lieber saß er allein im Kinosaal und sah sich an, was die anderen sehen sollten.

Es dauert eine Weile, bis er einen Lieblingsfilm nennt: "Cinema Paradiso" von Giuseppe Tornatore. Die Geschichte eines sizilianischen Dorfkinos, in dem sich die Menschen sehr nahekommen. Philippe Noiret spielt einen alten Filmvorführer, der alle Dorfbewohner unterhält, vom Kleinkind über die heimlichen Liebespaare bis zum Greis.

"Ein bisschen was" habe diese Hommage mit seinem Leben zu tun, sagt der 100-Jährige. Wenn man fast so alt ist wie das Kino selbst, darf man ruhig untertreiben.

© SZ vom 24.4.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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