Acht Jahre im Verlies:Aufgetaucht aus tiefster Finsternis

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Die späte Heimkehr der Natascha Kampusch aus Wien: Mit zehn Jahren wurde sie verschleppt und von ihrem Entführer gleichsam lebendig begraben.

Michael Frank

Strasshof im Nordosten Wiens hat diesen bleichen, zweifelhaften Charme der Peripherie. Ein Ort wie viele andere, gesichtlos, unauffällig, ereignislos. Und nun verkündet Österreichs Boulevardpresse, das Haus Nr. 60 in der Heine-Straße sei das "Horrorhaus".

Eine brüchig-gelbe, schmucklose Fassade, daneben ein viel zu großer Garagenanbau, fast wie ein Bunker anmutend, mit seltsamen Glasziegel-Mustern unter dem Schrägdach.

Doch nicht seiner Hässlichkeit wegen hat das Haus diesen hilflosen Titel verdient, sondern weil sich unglaubliche Schrecken in seinem Inneren zugetragen haben müssen: Unter jenem Garagenbunker musste das Mädchen Natascha Kampusch acht Jahre lang leben.

Aber ob das ein Leben war? Das weiß noch niemand wirklich.

Natascha Kampusch wurde 1998 entführt, als Zehnjährige. Seither war sie verschwunden und galt vielen als längst tot.

Doch am frühen Nachmittag des Mittwoch torkelt eine junge Frau, bleich und desorientiert, durch den Vorgarten eines Nachbarhauses in Strasshof.

"Ich bin Natascha Kampusch. Ich bin entführt worden", sagt sie zu der Nachbarin. Die alte Dame ruft die Polizei.

Die Beamten trauen ihren Augen und Ohren nicht, wird ihnen doch rasch klar, dass sich hier, vergleichsweise undramatisch, ein Kriminalfall aufzuklären scheint, der zu den aufregendsten und schauerlichsten der Nachkriegsgeschichte Österreichs gehört.

Es wird jetzt einige Zeit brauchen, bis die Gefangene Abstand gewonnen und genug Nerven gesammelt hat, um über Umstände und Motive ihrer Gefangenschaft schlüssige Auskunft geben zu können, soweit ihr das möglich ist.

Sechs Quadratmeter Kerker

Vom mutmaßlichen Täter selbst, einem 44-jährigen Elektriker namens Wolfgang Priklopil, wird nichts mehr zu erfahren sein: Er hat sich nach der Entdeckung seines Verbrechens noch am Mittwochabend umgebracht, sich vor einen Zug geworfen.

Offensichtlich war Priklopil zuvor mit dem Auto wild herumkutschiert, um sein plötzlich geflohenes Opfer wieder einzufangen, und hat sich dann - die Alarmfahndung lief bereits auch über Radio und Fernsehen - nach Wien in ein Einkaufszentrum geflüchtet. Dort wird sein Auto gefunden, er nicht.

Später entdeckt man seine Leiche auf den Gleisen der Nordbahn in der Nähe des Wiener Pratersterns, Priklopils Autoschlüssel in der Tasche des zerfetzten Toten.

Ein Bekannter hatte den Flüchtigen zuvor noch ahnungslos durch die Stadt gefahren, weil der ihm erzählte, die Polizei sei hinter ihm her, wegen einer Alkoholkontrolle.

Acht Jahre.

Natascha war in dieser langen Zeit nicht tot, aber praktisch lebendig begraben. Sie hat unter der scheußlichen Garage ihre Jugend in einem Gehäuse zubringen müssen, das an alte Einsiedlergeschichten erinnert, in denen sich fromme Frauen oder Männer im Friedhofs- oder Kirchengemäuer haben einmauern lassen, um Demut und totale Abkehr von der Welt zu demonstrieren.

Nur 1,60 Meter hohe Zelle

Natascha wurde als Zehnjährige in Mauern gezwungen: Unter der Garage an der Heine-Straße, in der oft ein für Priklopils Verhältnisse überdimensionierter roter BMW seine Unterkunft hat, gibt es eine alte Montagegrube.

Eine Höhle im Boden, von der aus der Monteur sich die Unterseite des Kraftfahrzeugs besser vornehmen kann.

Diese Montagegrube ist abgedeckt, versehen mit Toilette, Waschgelegenheit, einem kargen Bett, einem kleinen Bücherregal. Ein penibler Tüftler muss Wolfgang Priklopil gewesen sein, der die winzige Zelle eingerichtet hat, sonst hätte er all das auf einer Grundfläche von zwei mal drei Metern nicht untergebracht.

Das Gehäuse, in dem sein Opfer existieren muss, ist nur 1,60 Meter hoch. Unmöglich für einen jungen Menschen, darin binnen acht Jahren den aufrechten Gang zu erlernen.

Seltsam, dass das Kind, das zwischen seiner Entführung und seiner Flucht zu einer jungen Frau heranwuchs, in dieser Höhle tatsächlich etwas gelernt hat.

Denn jetzt, da sie wieder aufgetaucht ist, erweist sich Natascha Kampusch als vergleichsweise gut informiert über die Dinge des Lebens, sie vermag gut zu lesen und zu schreiben.

Der rätselhafte Verbrecher scheint seine Gefangene regelrecht unterrichtet zu haben, hat sie mit Zeitungslektüre und Videokassetten versorgt, die er allerdings vorher sorgsam zensiert haben soll.

Jedenfalls, so sagt es Herwig Haidinger vom österreichischen Bundeskriminalamt, "wenn Sie dem Mädchen heute auf der Straße begegnet wären, wäre Ihnen wahrscheinlich nichts aufgefallen". Nur eben diese unglaubliche Blässe, von Jahren im Verlies.

Nach acht langen Jahren vergeblichen Suchens, hoffnungslosen Bangens und wütender Auseinandersetzung um den Fall Natascha hatte man zunächst einmal nicht richtig glauben wollen, dass sich die Geschichte so auflösen würde.

Kündigte sich hier etwa ein neuer Fall Anastasia an, anspielend auf die angeblich einzige Überlebende des Mordes der Sowjets an der Zarenfamilie?

Eine Geschichte also, in der eine Person, die angeblich tot ist, leibhaftig auftaucht, ohne dass ihr Schicksal wirklich zu klären wäre, die dann weiterlebt zwischen dem Nimbus einer Märtyrerin und dem Vorwurf, eine Betrügerin zu sein?

Hier bewähren sich all die biometrischen Erkennungsmethoden. Man muss jedoch nicht einmal auf die DNS-Analyse warten, damit sich die 18-Jährige als die wahre Natascha erweist: Eine charakteristische Narbe des Kindes findet sich auch bei der jungen Frau.

Die totale Beherrschbarkeit

Freunde und Verwandte erkennen sie sofort, und die biometrische Vermessung ihres Antlitzes räumt im Vergleich von Kind und Frau letzte Zweifel aus. Absurderweise findet sich in dem Versteck auch ihr Mädchenreisepass. Den hatte sie vor acht Jahren noch in der Tasche, wegen eines Ausflugs mit dem Vater nach Ungarn.

Dieser Ausflug war später Anlass, die größte Fahndung, die die Republik Österreich je angestrengt hat, auch nach Ungarn auszudehnen. Sogar in Belgien hat man nachgeforscht, ob Natascha eines der Opfer des dort gefassten französischen Massenmörders Michel Fourniret geworden sein könnte.

Heute drängen sich Vergleiche mit dem Fall Marc Dutroux auf, der mehrere Mädchen in einem Kellerverlies gefangen gehalten, gequält, oftmals missbraucht hat, um sie am Ende elendiglich verhungern zu lassen. Ob auch Natascha missbraucht wurde, weiß noch niemand, außer ihr selbst.

Körperlich scheint sie in akzeptabler Verfassung. Die Polizeipsychologen haben angekündigt, sie wollten sehr behutsam bei ihrer Befragung sein, wegen dieses seelentiefen Traumas der Gefangenschaft.

Warum hat der Elektriker das Mädchen entführt? Psychologen entwerfen Modelle. Das schlüssigste scheint zu sein, dass hier ein gestörter Mensch sich Gewalt über ein anderes Individuum verschaffen wollte, um es ganz und gar auf seine Person zu fixieren, um es ganz und gar nach seinen Vorstellungen zu formen und zu bilden.

Ein kleines Mädchen, so die Deutungen bisher, schien Wolfgang Priklopil am leichtesten formbar, am ehesten total beherrschbar.

Zunächst einmal hat er deshalb das Kind gelehrt, Angst zu haben.

Der Entführer flößte dem Mädchen den Glauben ein, jeder unerlaubte oder unbedachte Schritt in diesem Hause werde dazu führen, dass alles, auch Natascha selbst, in die Luft flöge. Als die Polizei kommt, warnt Natascha dringend vor der intensiven Verdrahtung des gesamten Gebäudes: alles Zünddrähte für Sprengladungen, wie sie glaubt, die Ungerufene wegblasen sollen.

Tatsächlich erweist sich das Anwesen als elektronische Festung, mit unzähligen Sperren, mit Videoüberwachung für jeden Winkel, selbst das letzte Blumenbeet im Garten.

Aber die Sache mit den Sprengfallen war offenbar eine spezielle Form des Psychoterrors, um das Mädchen von jedem Fluchtversuch abzuhalten.

Diktat der Angst

Im Laufe der vergangenen Monate ist der penible Verbrecher aber offenbar lax geworden, hat seiner Gefangenen etwas Freiraum gegeben, hat sie angeblich sogar zum Einkaufen mitgenommen. Dass das Mädchen dabei niemanden angesprochen hat, zeigt das Diktat der Angst.

Am Ende, als Natascha sich offenbar gelegentlich im Hause bewegen durfte, hat ihr Peiniger vergessen, die Haustür abzuschließen - das ist der Augenblick, in dem Natascha den großen und für sie wohl schwierigen Entschluss gefasst hat, zu fliehen.

Schwierig deshalb, weil in den Jahren, in denen das Mädchen nur einen einzigen Gesprächspartner hatte, nur einen einzigen lebendigen Menschen zu sehen bekam, es wohl so etwas wie eine Beziehung zu seinem Peiniger hat entwickeln müssen.

Polizeipsychologen glauben Anzeichen des "Stockholm-Syndroms" zu erkennen: Dabei beginnt sich ein Entführungsopfer mit zunehmender Dauer einer Geiselnahme in gewisser Weise mit der Persönlichkeit und den Motiven seines Entführers zu identifizieren.

Verschwunden auf dem Schulweg

Angesichts einer Situation, deren bestimmende Momente ständige Angst, Hoffnungslosigkeit und das Bewusstsein sind, niemals einen Ausweg finden zu können, ergibt sich oft zwangsläufig diese befremdliche Zuwendung zu dem verbrecherischen Bewacher: Ohne sie wäre das eigene seelische Überleben aber unmöglich. So erklären es die Fachleute.

Rückblick.

Am 2.März 1998 hat das kleine Mädchen mit seiner Mutter Ärger. Morgens verlässt die Zehnjährige betrübt den riesigen Gemeindebau, wie in Wien die Sozialwohnungskomplexe heißen, in Richtung Schule. Nach ein paar hundert Metern trifft Natascha kurz ihre beste Freundin. Eine andere Schülerin erzählt, sie habe Natascha noch wie einen Schatten in einen Lieferwagen von heller Farbe einsteigen sehen. Von da an fehlt jede Spur.

Mehr als 700 Lieferwagenbesitzer werden überprüft und ihre Fahrzeuge inspiziert - tatsächlich ist unter ihnen auch Wolfgang Priklopil, wie sich aus den Akten ergibt.

Er hatte damals Bauschutt auf der Ladefläche, schien unbescholten zu sein, rutschte durchs Netz der Fahnder.

Über Monate, Jahre setzt die Polizei alles ein, was sie zur Verfügung hat: Mit Sonden, Hunden und Hubschrauber werden ganze Landstriche abgesucht, Teiche werden ausgebaggert und leergepumpt.

Die Wiener Polizei betreibe die Sache zu lax, heißt es dennoch, und burgenländische Kollegen übernehmen den Fall, kommen aber auch nicht weiter. Zigtausende Hinweise aus der Bevölkerung führen zu nichts.

Sogar Wahrsager treten auf den Plan. Ein Privatdetektiv und ein ehemaliger Richter und Politiker aus der Steiermark erzwingen immer neue Untersuchungen. Vorwürfe werden gegen die Mutter laut, sie habe das Kind im Streit umgebracht.

Es gibt ein Urteil gegen den Urheber dieser Behauptung, solche Diffamierungen zu unterlassen. Über den Verdächtigungen zerbricht endgültig die Verbindung der Eltern Nataschas, deren Verhältnis vorher schon nicht mehr das beste gewesen war.

Die Tränen des Wiedersehensglücks sind heute getrübt von der Bitterkeit des zwischenzeitlichen Unglücks. Der Täter, so weiß man jetzt, hatte mit der Familie gar nichts zu tun.

Niemand hat etwas bemerkt

In Strasshof herrscht am Donnerstag ein wenig Rummel. "Tausendmal habe ich mit dem Mann geredet", sagt ein Passant, der sich ärgert, dass er wegen der weiträumigen Absperrungen um die Heine-Straße nicht auf direktem Wege zum Friedhof kommt. Und dann fügt er an: "Geredet? Ich habe ihn angezeigt, weil er immer mit dem Gewehr herumgeschossen und die Tauben vom Himmel geholt hat." Sonst habe er nichts bemerkt.

Wieder das seltsame Phänomen, dass sich in scheinbar normalsten Verhältnissen Ungeheuerlichkeiten abspielen, und niemand etwas merkt.

Natürlich, im Nachhinein kommt vielen in Strasshof die extreme Zurückgezogenheit dieses eigentlich höflichen und korrekten Menschen sehr verdächtig vor.

Eine Nachbarin weiß zu berichten, sie habe eine gewisse Nervosität an dem jungen Mann allenfalls nur dann beobachtet, wenn sich bei Wolfgang Priklopil der Besuch seiner Eltern angekündigte. Jetzt erst reimt man sich zusammen, das müsse wohl Spurenverwischen und Harmlostun gewesen sein.

Eine Frau, die seit fünf Jahren hier in der Siedlung lebt, beklagt: Hier achte keiner auf den anderen, hier sehe niemand etwas, hier wolle man nichts sehen. Sie selbst sei unbeliebt, weil sie sich überall einmische.

Aber auch sie, die sich eigentlich für alles interessiert, hat nichts bemerkt.

Wieder einer dieser auffällig unauffälligen Einzelgänger, unerklärliche Abgründe hinter steriler Oberfläche.

Österreich ist seltsam beklommen: Ist dieses Ende des Entführungsfalles Natascha Kampusch eigentlich ein Happy End oder nur der vorläufig letzte Akt einer Lebenskatastrophe?

© SZ vom 25.8.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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