Syrische Flüchtlinge im Auffanglager Friedland:Im Land der teuren Führerscheine

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Syrische Flüchtlinge bei ihrer Ankunft in Friedland. (Foto: dpa)

5000 Flüchtlinge aus Syrien nimmt die Bundesrepublik in diesen Wochen auf. Im Durchgangslager Friedland erhalten sie einen Crashkurs in Sachen Deutschland. Lektion eins: Hier gibt es Regeln für alles.

Von Charlotte Theile

"Deutschland", sagt Martin Steinberg, "ist ein Land, in dem Regeln gelten. Hier hat nicht der stärkste Fahrer mit dem größten Bus recht. Und der Porschefahrer hat nicht mehr zu sagen als die junge Mutter mit dem Kinderwagen. Am Zebrastreifen muss er sie vorbeilassen." Steinberg nickt zufrieden, dann hält er einen Moment inne, um den Dolmetscher übersetzen zu lassen. Sanaa Ali Moustafa, 25 Jahre alt, schwarzes Kopftuch, viel Make-up und ein kluges Lächeln im Gesicht, nickt zufrieden. Genau das ist ihr in den ersten Tagen in Deutschland am stärksten aufgefallen: "In Syrien springen wir zurück, wenn ein Auto kommt. Hier halten die Autos an, wenn wir kommen."

Sanaa Ali Moustafa kommt aus Amuda, einer Kleinstadt im Norden Syriens. Gemeinsam mit ihrem Mann Imad Yousef und ihren Kindern, fünf und sieben Jahre alt, ist Moustafa seit fast zwei Jahren auf der Flucht. 18 Monate lang haben sie in Beirut in einem verlassenen Haus gelebt, zusammen mit anderen Syrern. Wohnen durften sie dort nur, weil ihr Mann Imad Yousef Moustafa "ehrenamtlich", wie es der Dolmetscher übersetzt, für den Hausbesitzer gearbeitet hat. Ihr fünf Jahre alter Sohn Yousef sitzt im Rollstuhl, ein Frühchen, er braucht bis heute medizinische Versorgung. "Das war ein Punkt für uns", sagt Sanaa Ali Moustafa. Punkt zwei waren die Verwandten in Meschede, Nordrhein-Westfalen. So hat es die Familie auf die Liste des Hilfswerks UNHCR geschafft, die den deutschen Behörden vorgelegt wurde.

5000 syrische Flüchtlinge will die Bundesrepublik in den nächsten Wochen aufnehmen, zusätzlich zu den Asylverfahren. Es sollen in erster Linie besonders schutzbedürftige Personen sein, Frauen, Kinder, Verletzte. Außerdem: Intellektuelle. Syrer, von denen man glaubt, dass sie für den Wiederaufbau des Landes wichtig sein könnten. Das erste Flugzeug kam am Mittwoch vergangener Woche in Hannover an, 69 Erwachsene und 38 Kinder. In dieser Woche haben sie im Grenzdurchgangslager Friedland Crashkurse besucht. Deutschland für Anfänger. Neben Sprachunterricht steht Landeskunde auf dem Plan: Wie funktioniert die Bundesrepublik? Was tun, wenn ich krank bin? Wie finde ich Arbeit? Und, als letzter Kurs am Freitag: Wie gehe ich mit deutschen Behörden um?

"Sie küssen deutschen Boden"

Martin Steinberg, der an diesem Dienstag "Mobilität" unterrichtet, ist Pastor des Evangelischen Hilfswerks in Friedland. Er ist stolz auf das, was hier, auf dem 6,5 Hektar großen Gelände, Heimkehrerstraße 18, geleistet wird. 1945 von der britischen Militärregierung gegründet, wurde Friedland anfangs für Millionen Vertriebene und heimkehrende Kriegsgefangene zum "Tor zur Freiheit". In einer Wellblechhütte erinnert ein Feldbett an diese Jahre, Schwarz-Weiß-Fotos zeigen abgemagerte Gestalten, auf der Erde kniend: "Sie küssen deutschen Boden", steht darunter. Zwei Kinder mit schwarzen Locken schauen aufmerksam auf die Fotos. Militärlastwagen, auf denen sich Flüchtlinge drängen, Menschen, die riesige Bündel mit sich herumtragen: Diese Bilder dürften auch sie gut kennen.

Heute hat das Lager in Friedland noch 700 Plätze. Schlafsäle wurden zu Klassenräumen oder familientauglichen Zimmern für vier bis sechs Personen umgebaut. Spätaussiedler und Asylbewerber aus dem Nahen Osten, aus Eritrea, aus Tschetschenien leben hier. Die 107 neu angereisten Syrer haben eine Sonderrolle: eingeflogen per Charterflug, am Flughafen begrüßt von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU). Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) kam zu Besuch. Wichtiger noch: Ihr rechtlicher Status ist klar. Sie dürfen arbeiten, haben Anspruch auf Sozialhilfe, bekommen Sprach- und Integrationskurse, dürfen mindestens zwei Jahre bleiben.

Für Thomas Heek, Leiter der Caritas-Stelle Friedland, eine schwierige Situation: "Wir haben im Prinzip ein Drei-Klassen-System bei den syrischen Flüchtlingen - obwohl alle aus der gleichen Situation kommen." Während die 5000 Kontingentflüchtlinge ihr Leben in die Hand nehmen können, müssen Syrer, die bereits in einem anderen EU-Staat registriert wurden, monatelang auf die Klärung ihrer Situation warten. Auch syrische Asylbewerber leben in Friedland. Ihre Einreise wurde nicht vom Bundesinnenministerium finanziert. Viele von ihnen haben Schlepper bezahlt, sich auf dem Weg hierher verschuldet.

Deutschland nimmt 5000 syrische Flüchtlinge auf - darunter vor allem Kinder, Intellektuelle und Verletzte. (Foto: REUTERS)

Zwei Millionen Syrer sind auf der Flucht, weitere vier Millionen sollen innerhalb Syriens vertrieben worden sein. Einige tausend medienwirksam einfliegen lassen- das kritisieren Flüchtlingsorganisationen als Tropfen auf den heißen Stein. Heek ist froh, dass Deutschland sie aufnimmt. Was ihn stören würde: Wenn der deutsche Fachkräftemangel bei der Auswahl entscheidend wäre. Das wird sich zeigen, wenn alle 5000 Flüchtlinge hier sind. Pastor Steinberg sagt: "In meinen Kursen sehe ich viel Elite." Dolmetscher Saman Schuani bestätigt: "Die Kurse laufen besser als normale Asylbewerberkurse - es gibt viele Akademiker, das merkt man."

"Die Kurse laufen besser als normale Asylbewerberkurse - es gibt viele Akademiker, das merkt man", sagt Dolmetscher Saman Schuani, der den syrischen Flüchtlinge Deutsch beibringt. (Foto: REUTERS)

Einer, der bei Schuanis Sprachkursen besonders schnell begreift, ist William Kyriakos, 48 Jahre alt, lachsfarbenes Hemd, graue Strickjacke. Er kommt aus Aleppo, ist seit einem Jahr mit seiner Frau und seinen zwei Kindern auf der Flucht. Seine Familie ist über die ganze Welt verstreut, die Eltern im umkämpften Aleppo, die Geschwister in den Nachbarländern Syriens, eine Schwester in Schweden. Er sei Christ, sagt Kyriakos, mehr will er nicht über seinen Glauben sagen. Anders als viele andere im Kurs, die als Vorqualifikation "Landwirt" angeben haben und sich nun ärgern, dass es in Deutschland keine Kamele und kaum Ziegen gibt, spricht Kyriakos fließend Englisch. Kyriakos lobt die Haltung der Bundesregierung in der Syrien-Krise: "Sie versuchen, beide Parteien an einen Tisch zu holen für eine friedliche Lösung. Sie wissen, wie Krieg ist und wie schlimm es für ein Land ist, getrennt zu werden."

Was ärgert die Flüchtlinge?

Normalerweise bleiben Flüchtlinge etwa zwei Monate in Friedland. Bei den 107 Syrern geht alles schneller: Anfang nächster Woche werden sie auf die Bundesländer verteilt. Familie Kyriakos kommt ins Münsterland; Sanaa Ali Moustafa, ihr behinderter Sohn, ihre Tochter und ihr Mann reisen zu den Verwandten nach Meschede.

Was sie bis dahin gelernt haben, ist das, was Deutschland für wesentlich hält: Dass der Bundespräsident der höchste Repräsentant des Landes ist. Dass es in Deutschland 80 Millionen Menschen, 40 Millionen Pkws und 60 Millionen Fahrradfahrer gibt. Dass Doktortitel und andere Qualifikationen hier besonders wichtig sind, ein Kellner Restaurantfachmann, eine Verkäuferin Einzelhandelskauffrau und eine Arzthelferin Medizinische Fachangestellte heißt. Dass es sich empfiehlt, anzuklopfen, bevor man ein Büro betritt.

Was die Flüchtlinge ärgert? "Dass der Führerschein so teuer ist", sagt Steinberg, "und dass man ihn nicht einfach kaufen kann." Jens Pflüger, der das Modul "Bildung" unterrichtet, sieht andere Hürden: Viele werden nicht in ihrem Beruf weiterarbeiten können, weil sie ihre Zeugnisse nicht mitnehmen konnten oder weil ihre Qualifikation nicht anerkannt wird.

Imad Yousef Moustafa glaubt an eine goldene Zukunft. Er ist Automechaniker, schwärmt von "BMW, Audi, Volkswagen". Auch William Kyriakos, der als Beruf Elektriker angibt, aber vor allem Fragen zur Anerkennung von Hochschulabschlüssen stellt, hofft, bald gutes Geld zu verdienen. Dann sagt Kyriakos einen Satz, der für alle Flüchtlinge zu gelten scheint: "Wir sind nicht glücklich. Aber: Es geht uns gut."

Der nächste Charterflug wird Anfang Oktober in Deutschland erwartet.

© SZ vom 21.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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