Zeitzeuge:Unterm Kirchturm

Johannes Rothbauer erlebte die Fliegerangriffe im Kellerregal

"Kurz vor Kriegsende sah ich, wie SS-Männer einen gefangenen Soldaten an unserem Haus in der Muspillistraße vorbeiführten. Eine alte Frau schrie voller Hass: Speit's ihn an! Ihr Haus hatte wohl bei einem Fliegerangriff Schäden davongetragen. Wir mussten bei Angriffen in den Pfarrhof gegenüber gehen. Die meisten Angriffe waren nachts. Meine Mutter hatte viel zu tun mit uns sechs Kindern. Der Pfarrer hat ihr geholfen, uns zu wecken, und uns manchmal auch getragen. Zwei oder drei Nächte verbrachten wir auch im Keller unter dem Kirchturm. Eigentlich lagerten darin wertvolle Figuren. Wir schliefen wie die Statuen in den Kellerregalen. Ich fand das als Kind nicht so dramatisch, schließlich war ich es mit meinen achteinhalb Jahren so gewohnt.

Die SS saß im Oberföhringer Schloss. Davor standen immer sehr beeindruckende Autos, viel schöner als alle anderen, die ich kannte. Doch eines Morgens waren sie plötzlich alle verschwunden. Die ersten amerikanischen Soldaten sah ich dann, als ein Panzer in der Nähe unseres Hauses hielt. Meine jüngere Schwester stand am Fenster, von unten rief ihr ein Soldat zu: Darling, darling. Zu uns Kindern waren die Soldaten immer sehr freundlich. In Oberföhring gab es viele Kolonialwarenläden, in denen sich die Amerikaner wohl auch Alkohol kauften. Kurz nach Kriegsende sah ich einen amerikanischen Soldaten mit einem Motorrad vorbeifahren. Er schien schon einiges getrunken zu haben und beherrschte das Fahrzeug nicht so, wie er wollte. Da hat er es einfach liegen lassen und ist zu Fuß weiter." wiha

© SZ vom 25.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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