Zeitgeschichts-Projekt:Münchner Leerstellen

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In der Schule an der Stielerstraße war im Zweiten Weltkrieg ein "Bombensuchkommando" untergebracht, das aus Häftlingen bestand. (Foto: Stephan Rumpf)

Studierende der Ludwig-Maximilians-Universität und der Uni Regensburg haben sieben Lücken in der Erinnerungskultur an die NS-Opfer zusammengetragen - und ihr Projekt jetzt im Internet veröffentlicht

Von Jakob Wetzel

Da war zum Beispiel Jakob Feinstein, ein jüdischer Litauer. Seine Frau, seine Kinder und seine Schwiegereltern wurden 1941 in einem Wald bei Kaunas ermordet, er wurde nach Bayern deportiert und in ein Außenlager des KZ Dachau bei Utting am Ammersee gesperrt. Feinstein hielt durch, er überlebte die Haft, die Arbeit in der Kriegsindustrie und den Todesmarsch. Seiner zweiten Frau erzählte er später, wie die Gefangenen im Lager versuchten, trotz der Arbeit und trotz des Hungers zu überleben: Sie sammelten etwa Schnecken oder pflückten auf dem täglichen Weg von der Fabrik zurück zu den Baracken heimlich Sauerampfer und wilden Knoblauch vom Wegesrand. Den aßen sie dann, mitsamt der daran klebenden Erde.

Jakob Feinstein war einer von etwa 650 Häftlingen im Außenlager Utting, einem Lager, das nach 1945 über Jahrzehnte hinweg kaum jemanden gekümmert hat, und das deshalb in den Augen von 17 Studierenden der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und der Uni Regensburg für eine Leerstelle in der Erinnerungskultur steht.

Es ist nicht die einzige, sie haben insgesamt sieben Lücken identifiziert. Daher haben sie zwei Semester lang Karten und Fotos zusammengetragen, sie werteten Akten aus, sprachen mit Überlebenden und Angehörigen und fuhren an die Orte, an denen es Lücken zu schließen gab, auch um zu erfahren, wie sich Gemeinden und Anwohner heute der Vergangenheit stellen. Ihre Ergebnisse präsentieren die Studenten nun in einer virtuellen Ausstellung im Internet: " Münchner Leerstellen".

Da ist beispielsweise die Schule an der Stielerstraße in der Münchner Ludwigsvorstadt. Hier war im Krieg ein "Bombensuchkommando" untergebracht. Nach Luftangriffen mussten Häftlinge Blindgänger entschärfen. Und da sind weitgehend unbekannte Themen wie etwa das Schicksal minderjähriger KZ-Häftlinge, die schwere Arbeit verrichten mussten und oft keinerlei Kontakt zu ihren Familien hatten.

"Es ging uns dabei gezielt um Menschen aus dem östlichen Europa", sagt die Historikerin Ekaterina Makhotina, die das Projekt mit der Volkskundlerin Marketa Spiritova betreut hat. Aus dieser Region schon deswegen, weil die Studierenden den "Elitestudiengang Osteuropastudien" beider Universitäten belegt haben, das Projekt gehört zum Studium. Aber auch, weil sich über Zwangsarbeiter aus Polen oder der Sowjetunion, aus Weißrussland, der Ukraine oder vom Baltikum, eine Linie ziehen lasse von München direkt zum Vernichtungskrieg im Osten. Und auch, weil osteuropäische Opfer des NS-Regimes während des Kalten Krieges und darüber hinaus im Westen wenig Beachtung gefunden haben. Die Überlebenden seien jahrzehntelang hinter dem Eisernen Vorhang weggeschlossen gewesen, sagt Makhotina; erst im Jahr 1991 hätten frühere KZ-Häftlinge aus Weißrussland und der Ukraine erstmals die Gedenkstätte Dachau besuchen können.

Den Leerstellen nähern sich die Studenten nun jeweils aus verschiedenen Perspektiven. Beispiel Utting: Hier errichtete die Organisation Todt 1944 wohl die Außenlager "Kaufering X" und "Kaufering V" des KZ Dachau. Die meist osteuropäischen Gefangenen arbeiteten in einem Zulieferbetrieb für die Flugzeugindustrie, im Dorf und in einem Rüstungsbunker.

Für das Projekt recherchierten drei Studentinnen einen historischen Überblick, verfolgten die Schicksale einzelner Häftlinge und fragten, ob und wie Dorfbewohner mit ihnen in Kontakt kamen. Und sie trugen dabei bewegende Geschichten zusammen, etwa die von Jakob Feinstein. Spuren sind vor Ort wenige geblieben. In den Fünfzigerjahren wurde das Gelände neu genutzt, mittlerweile stehen am früheren Ort des Lagers ein Wertstoffhof und eine Wohnsiedlung. In der Gemeinde gibt es den Studenten zufolge ein Todesmarsch-Mahnmal und einen Wegweiser zum "Jüdischen KZ-Friedhof", mehr aber auch nicht. Immerhin: Mittlerweile bemühen sich in Utting mehrere Initiativen um das Gedenken. Angefangen hatten den Recherchen der Studentinnen zufolge Privatleute und die evangelische Kirche, heute reicht das Engagement von den Kirchen und der Gemeinde über die Bürgerinitiative "Agenda 21" bis hin zur Bundeswehr.

In "einer konstruktiven Zusammenarbeit" der Initiativen bestehe allerdings Nachholbedarf, schreiben die Studentinnen. Tatsächlich habe es sie erstaunt, wie konfliktträchtig Erinnerungsarbeit vor Ort sein könne, sagt Makhotina. Viele Bürger engagierten sich mit Herzblut und reagierten dünnhäutig auf Kritik. Dabei wollten doch alle dasselbe - und sie stehen vor einer gemeinsamen Herausforderung: Sie müssen die Jüngeren für die Geschichte interessieren, damit die Opfer nicht wieder vergessen werden.

Das Projekt "Münchner Leerstellen" ist im Internet unter www.muenchner-leerstellen.de abrufbar.

© SZ vom 03.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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