Zehnte Liga (9):"Die denken, wir machen Kasperleien!"

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Kluge Sätze, harte Worte, chinesische Schriftzeichen und die Backstreet Boys: Ein Spiel in den Kabinen der Kreisklasse.

Marc Baumann, Michael Neudecker

Die SZ begleitet eine Saison lang die Fußball-Kreisklasse 2. Am achten Spieltag empfing der ESV Freimann den TSV 1954 - ein Bericht aus dem tiefsten Inneren jeder Fußballmannschaft: der Kabine.

Geheim! Die Kabine ist das Innerste jeder Fußballmannschaft. (Foto: Foto: Christina Pahnke)

Vor dem Spiel

Man hat ja schon von diesen Kreisklassenkabinen gehört, kleine, enge Räume, die aussehen wie Grundschul-Umkleiden, nein: die Grundschul-Umkleiden sind. Die Kabine des ESV Freimann ist immerhin groß genug für 14 Fußballer plus Trainer und Betreuer, der Boden ist aus dunklem Laminat, das sieht erschütternd edel aus. An der Wand hängen Zettel mit Sprüchen wie "Keine Indianer ohne Häuptlinge", oder "Ein Spiel dauert 90 Minuten plus X", oder "Fußball muss Spaß machen". Auf einem Zettel ist ein chinesisches Schriftzeichen gemalt, darunter steht nur ein Wort: "Kampf". Willkommen in der Kreisklasse.

Der Trainer heißt Mike Meier, die Sache mit den Zetteln war seine Idee, weshalb er in der Trainertypologie als "Motivationsguru" einzuordnen ist. Aber er hat auch eine Taktiktafel mit Magnetnummern, die er regelmäßig benützt, wahrscheinlich ist er eine Kreuzung aus Christoph Daum und Ralf Rangnick. Vor seiner Ansprache geht er mit einer Tafel Schokolade herum, Weiße Crisp, die gute von Aldi, das kommt an. Und dann legt er los. Er sagt: "Wenn's brennt, Leute, hauts das Ding raus, gell, Michi, nicht so eine Aktion wie letzte Woche." Er sagt: "Wir haben eine kleine Talfahrt gehabt, jetzt wird's Zeit, dass wir den Berg wieder hochsteigen." Pause. "Und wenn der Schiri anpfeift, sind wir voll da, wir brauchen keine Aufwärmphase!" Pause. "Und jetzt ziehts euch an und holts die drei Punkte!" Die Spieler ziehen sich an, brüllen, gehen raus.

***

Hätte Robert Klimkeit vorher gewusst, wie sehr er sich über dieses Spiel ärgern wird, er wäre daheim geblieben und hätte sich ausgeschlafen. Stattdessen ist er von der Mallorca-Reise ("gerade gelandet, nur kurz daheim vorbeigeschaut") zum Sportplatz geeilt. Die letzten drei Partien waren ein Desaster, es ist Krisenstimmung. Klimkeit sagt: "Ich hab drei Spieler draußen sitzen, wenn einer nicht mitzieht, den hol ich sofort vom Platz!" Der Gegner kann jede Sekunde aus der Kabine kommen, Klimkeit und die Mannschaft vom TSV 1954 warten neben dem Hauptplatz. "Das Wetter ist schön, mach' ma die Besprechung draußen", hat er vorgeschlagen, jetzt steht er im Herbstlaub, die Sonne im Gesicht, aber Schönwetterfußball gibt es heute nicht. "Jungs!", ruft Klimkeit, alle Gespräche verstummen, "ihr wisst, die letzten Spiele waren miserabel", kurze Atempause, "aber heute zeigen wir unser wahres Gesicht!" Zustimmendes Gemurmel.

Klimkeit probiert es mit Psychologie, das klingt so: "Alex, ich will, dass du marschierst - wenn du viermal umsonst läufst, egal, beim fünften Mal triffst du!" Oder, an die Stürmer: "Ich weiß, ihr seid brandgefährlich!" Er schwört sie auf den gemeinsamen Feind ein: "Freimann ist Absteiger, die nehmen uns nicht ernst, die denken, wir machen Kasperleien!" Wenn einer keine Wut im Bauch hat, gibt es ja noch die Auswechselbank.

Halbzeitpause

Was für ein Spiel. Freimann führt 3:2, es gab eine gelb-rote Karte für den Torwart von 1954, einen Elfmeter für Freimann und viele Diskussionen. Mike Meier schweigt einen Moment lang. "Was wir für eine Klappe haben", sagt er dann, er wird laut, "das geht auf keine Kuhhaut!" Das Gegentor kurz vor der Halbzeit hat ihn geärgert, Freimann wollte an der Mittellinie auf Abseits spielen, das hat nicht so ganz geklappt. "Wie oft hab' ich schon gesagt, dass wir an der Mittellinie nicht auf Abseits spielen", ruft Meier, "wenn das nochmal einer versucht, den wechsel ich sofort aus!" Dann senkt er die Stimme, "wir hatten doch gute Aktionen, wir können's doch, ja, ihr habt doch die Klasse". Dann, der Lieblingssatz jedes Fußballtrainers: "Leute", sagt er, "ganz einfach Fußball spielen." Er dreht sich zur Taktiktafel, sagt, dass wir umstellen, und stellt um. Schiebt die Fünf auf die Liberoposition, die Sechs und die Zwei daneben, die Acht und die Drei ins defensive Mittelfeld, davor die Vier, die Sieben und die Elf. "Wir spielen jetzt klassisch, mit Libero und Manndecker." Viererkette und Kreisklasse - das war in der ersten Halbzeit zu sehen -, das kann schon mal schiefgehen. Das Spiel sollen sie "ruhig runterspielen, aber ohne einzuschlafen, auch klar", nur eines, fügt er noch hinzu, dürfe man nicht machen: "Denkt's nicht dran, dass wir einen Mann mehr sind!" Pause. "Jetzt gehts raus, zerlegts die da draußen, und spielts eure Klasse aus, mit einem Mann mehr."

***

Die Männer vom TSV 1954 sammeln sich unter einem Kastanienbaum, eigentlich total idyllisch, aber dafür hat jetzt keiner den Sinn. Wie wird Robert Klimkeit seine Jungs ansprechen? Wütend? Ruhig? Erst mal nimmt er seine kleine Tochter mit zur Halbzeitansprache. "Seid froh, dass der Schiedsrichter Gelb-Rot gezeigt hat, das war eine klare rote Karte", beginnt er. Ein klug gewählter erster Satz, es soll keiner die Schuld beim Schiedsrichter suchen. Klimkeit will weiter reden, aber die Spieler fallen ihm ins Wort. "Die können wir mit zehn Mann auch packen!", sagt die Elf, der Leitwolf. "Die haben Angst!", findet die Acht, die Zehn auch. "Hey, Ruhe!", ruft Klimkeit, er will jetzt die Taktik für die zweiten 45 Minuten erklären. Doch der Ersatz-Torwart mischt sich ein: "Seit drei Wochen müssen wir das 1:0 machen, aber wir machen es nie!" - "Ruhe!!", brüllt Klimkeit. Vergeblich. Die Elf sagt: "Männer, wir reden zu viel, lasst uns die Energie lieber in die Zweikämpfe stecken." Einige Spieler stimmen zu, man diskutiert, und dann hat Robert Klimkeit die Nase voll, wortlos geht er weg, hinüber zum Vorstand, die andern können ihn jetzt gerade mal alle.

Nach dem Spiel

5:2, das ist der Endstand, irgendwann wurde es einfach, weil 1954 noch eine zweite gelb-rote Karte bekommen hat. Die Spieler stellen sich im Kreis auf, Mike Meier brüllt, die Spieler brüllen, "zicke-zacke-hey-hey-hey" ist auch dabei. Sie gehen in die Kabine, dann dröhnt es laut, wie in einer schlechten Provinz-Disco: "I waaant i-hit tha-hat waay." Die Backstreet Boys singen, die Spieler des ESV Freimann auch, einer breitet die Arme aus und dreht sich, ein anderer schüttet ihm Wasser über den Kopf. "Schreiben Sie das nicht", sagt Meier, "das ist ja peinlich." Sie machen das nach jedem Sieg, immer die Best of Backstreet Boys, immer in voller Lautstärke. Vor dem Sieg hören sie auch Musik, manchmal Hip-Hop, oft AC/DC, das gleiche Lied, so lange sie gewinnen. "Am Anfang hab ich mich gegen die Backstreet Boys gewehrt", sagt Mike Meier, aber dann hat er nachgegeben. Die Stimmung ist gelöst, so gelöst, wie sie eben ist, wenn erwachsene Kreisklassenfußballer schnulzige Teenie-Songs mitgrölen.

***

Wenn die Freimanner besser in Überzahl kontern könnten, hätte es eine noch peinlichere Niederlage werden können. Doch jetzt ist Schluss mit lustig. Die ganze zweite Halbzeit hat Robert Klimkeit geschwiegen, jetzt gibt es ein Kabinendonnerwetter, man hört es durch die Tür noch einige Meter weit. "Keiner reißt sich hier den A . . . auf für die Mannschaft!" - "Die Gegner trainieren, wir nicht!" - "Das macht mir keinen Spaß, da draußen zu stehen und euch zuzusehen!" Es beginnt eine Diskussion in der Mannschaft, sie klingen vernünftig, das große Zerwürfnis scheint nicht zu drohen. Die Neun ergreift das Wort: "Wer hat uns in der Liga denn bisher an die Wand gespielt? Wer? Keiner!" Aus der Nachbarkabine tönt: "Tell me why, te-hell mee why." Fußball ist grausam.

© SZ vom 21.10.2008/sonn - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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