Mit der C-14-Methode ist es kürzlich gelungen, das Alter des Kruzifixes in der Schlehdorfer Friedhofskapelle eindeutig zu bestimmen, berichtet Schwester Josefa Thusbaß. "Sie wissen, was damit gemeint ist?" Hm, leider nicht... Solche Inkompetenz bringt die Missionsdominikanerin nicht aus dem Konzept: Viele Jahre lang hat sie an der Schlehdorfer Klosterschule Mathematik und Physik unterrichtet. Mit Nachsicht hebt sie zur Erklärung an: Das auch Radiokarbonmethode genannte Verfahren beruht auf der unterschiedlichen Zerfallszeit von unterschiedlichen Kohlenstoff-Isotopen in abgestorbenen Organismen. So lässt sich berechnen, dass das Holz, aus dem das Kruzifix geschnitzt wurde, zwischen 980 und 1040 gewachsen ist. "Geht man nun davon aus, dass das Holz damals üblicherweise etwa 50 Jahre gelagert wurde, ergibt sich eine Entstehungszeit um 1100", rechnet die studierte Physikerin vor.
Nur noch ganz wenige romanische Kruzifixe in dieser Größe seien erhalten. Die Schlehdorfer Friedhofskapelle beheimatet also einen ganz besonderen Schatz. Der ist glücklicherweise auch ganz besonders gut gesichert. Zwar lässt sich die Kapelle tagsüber betreten, doch ein mit einer Alarmanlage versehenes Gitter schließt den hinteren Bereich ab, in dem sich die 2,9 Meter hohe Christusfigur befindet.
Sie strahlt Erhabenheit aus. Ihre Füße stehen auf einem kleinen Podest. "Die romanischen Kruzifixe deuten das Leiden nur an. Christus hängt nicht hilflos, dem Leiden preisgegeben, wie es später bei den gotischen Figuren der Fall ist. Er steht, bewahrt sich eine Souveränität im Leiden", erklärt Thusbaß. Sie bewundere immer wieder seinen abgeklärten Charakter: "Er thront da oben und leidet zugleich. Das hat viel mit unserem Leben zu tun: Wir glauben, über den Dingen zu stehen, und sind doch tief in sie verstrickt. Doch der Mensch an sich, das, was den Menschen ausmacht, ist unzerstörbar. Genau dafür steht dieses Kruzifix."
Ursprünglich habe es im Christentum gar keine Kruzifixe gegeben, erzählt Schwester Josefa. Dann sei zunächst der Erlöser am Kreuz, darauf der Leidende abgebildet worden. Die Darstellungen seien ein Spiegel der jeweiligen gesellschaftlichen Situation, orientierten sich an der Lebenswelt der Menschen. "Demzufolge würde ein modernes Kruzifix heute den zerrissenen, vernichteten Menschen zeigen." Seit 50 Jahren gehört die 72-Jährige dem Orden an; seit 1967 lebt sie im Schlehdorfer Kloster. Dass das romanische Kruzifix nicht in der Klosterkirche, sondern der Friedhofskapelle hängt, verstärkt seine Bedeutung. Denn dort werden alle Verstorbenen des Dorfes aufgebahrt. "Und dann steht man vor einem Toten, jung oder alt, und der Blick geht unweigerlich hinauf zu diesem Kreuz. Man sieht darin den leidenden Menschen, der zu Tode gekommen ist, aber zugleich den Auferstandenen", reflektiert Thusbaß. "Er verweist auf das, was danach kommt. Ein Weiter, ein Mehr - was genau es ist, wissen wir ja nicht."
Seit 1693 befindet sich dieses Kruzifix in der kleinen Kapelle. Es stammt aus dem zweiten Klosterbau, der einst unterhalb des jetzigen Klosters an der Straße lag. Auf einem Teil des alten Anlage wird nun ein Pflegeheim errichtet, in einer Notgrabung wurde dokumentiert, was von dem alten, ursprünglich romanischen Bau übrig war. Das Kreuz ist in einem außerordentlich guten Erhaltungszustand. Sein Glück dürfte gewesen sein, mutmaßt die Ordensschwester, dass es keiner weiter beachtet hat, so dass es Kriegs- und Notzeiten unbeschädigt überdauern konnte. "Es hat so viel gesehen über die Jahrhunderte. Und unwandelbar ist es immer noch da - so wie vor fast 1000 Jahren."
Für die Schlehdorfer hat es ungeachtet seiner immensen kunsthistorischen Bedeutung indessen einen ganz eigenen Wert: "Es ist ihr Kreuz, das eng verwoben ist mit der Pfarr- und den Familiengeschichten." Bezeichnenderweise gehört es denn auch der Gemeinde, nicht der Pfarrei, so dass weder der Pfarrer noch die Klosterschwestern einen direkten Zugang und einen Schlüssel zur Entschärfung der Alarmanlage haben.
Ihrer besonderen Beziehung zu diesem Kruzifix tut das für Thusbaß keinen Abbruch. Sie ist immer wieder fasziniert von seiner Ausstrahlung. Typisch für die romanischen Kreuze sei, so erläutert sie, dass sie vier Nägel haben: für jede Hand und jeden Fuß einen. In der Gotik setzten sich die Drei-Nagel-Kreuze durch, bei denen die übereinandergelegten Füße von einem Nagel durchbohrt werden, was den Charakter des Martyriums stark betont. Hier aber stehe ein thronender Herr vor uns, der ursprünglich ein herrschaftliches Kleid getragen habe, aus dem ein bis an die Knie reichender Rock wurde. Und je länger man ihn anschaut, desto besser kann man Schwester Josefa verstehen. Dieser Christus in seiner ruhigen, souverän abgeklärten Haltung kann unmittelbaren Trost spenden.
In der nächsten Folge: Die Gotik am Beispiel der Tölzer Pfarrkirche Maria Himmelfahrt