SZ-Serie: Altes Handwerk, heute noch gefragt:Planken, Spanten, Wanten

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Bootsbauer Tim Lenz hat seinen Beruf am Chiemsee erlernt. Er erfordert Geduld, Augenmaß, Erfahrung und Gefühl für das Material. Zurzeit verwirklicht der gebürtige Hannoveraner sich und seinem Auftraggeber einen Traum: Er setzt den Gaffelschoner "Vera Mary" instand

Von Anita Naujokat

Obschon völlig abgetakelt, hat sie sich ihre Würde bewahrt. Gestützt von stabilen Stahlträgern, ruht ihr stolz geschwungener Rumpf eingebettet von Arbeitsbühnen über zwei Stockwerke hoch in der eiskalten Scheune. Die "Vera Mary" ist schon durch royale Hände gegangen: George V., König des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Kaiser von Indien, hatte sie einst seinem Segellehrer und Freund Sir Philip Hunloke geschenkt. Seit einem Jahr ist sie nun in der Obhut von Tim Lenz, und auch für ihn ist sie etwas ganz Besonderes. Schließlich gehört ein historischer hochseetüchtiger Zwei-Mast-Gaffelschoner nicht gerade zum alltäglichen Broterwerb eines in München lebenden Bootsbauers.

In einem Zwei-Jahres-Projekt restauriert Lenz behutsam den 1931/32 in England gebauten Regatta-Segler. In einem Ort weitab vom Meer irgendwo im tiefsten Bayern, der nicht erkannt werden soll. Im Team des 41-Jährigen sind Bootsbaumeister Dietmar aus dem Badischen, Schreinermeister Reinhard, Treppenbauer Angel, der Halbperuaner mit spanischen Wurzeln. Seit Kurzem ist Simon, ein Zimmermann auf der Walz, dabei. Dieser hatte eigentlich Schiffszimmermann werden wollen, doch nach einem Jahr Lehre schloss die Firma, eine neue war nicht mehr zu finden. Die Ausbildung gebe es in ganz Deutschland nicht mehr, sagt er.

Zu dritt arbeiten sie gleichzeitig im Inneren des Schiffbauchs. Derzeit werden die Spanten ausgetauscht. 40 Stück, von denen kein einziges in Krümmung und Maß dem anderen gleicht. Jede einzelne der vom Zahn der Zeit angenagten Rippen, die die Grundstruktur des Bootes bilden, wird vermessen. Von jeder wird eine Schablone angefertigt, als Vorlage für eine neue. Die relativ geraden kann Lenz in einem Stück aus dem Eichenholz schneiden. Für die stärker gerundeten muss er jeweils bis zu 20 dünne Lamellen verleimen, die, von Zwingen zusammengepresst, in dem einzigen beheizten Raum des ganzen Gebäudes trocknen. Einziges elektronisches Hilfsmittel ist ein Lasermessgerät zur Situierung der Spanten.

Alles andere ist Handarbeit, erfordert Geduld, Augenmaß, Erfahrung und Gefühl für das Material. Unabdingbar dabei die Straklatte: Mit dem langen, dünnen und biegsamen Plastikstab lassen sich für Boots- und Spantenformen beulenfreie perfekte Kurven kreieren. "Denn darum geht es immer im Bootsbau", sagt Lenz, "darum, die harmonische Kurve zu finden." Zehn Bleigewichte, die an Relikte archäologischer Ausgrabungen erinnern, halten das Strak in Form und Linie, um die Sägekante auf dem Holzstück zu bestimmen.

Das Blei haben die Männer aus dem Schiff. Denn der Originalmotor lag ursprünglich in Richtung Bug. Als ein schwerer Hochleistungsmotor in das Heck kam, musste Blei eingebaut werden, um sein Gewicht auszugleichen. Während Lenz das erzählt, mustert er kritisch ein Astloch in einem neuen Spant. Was den Esstisch apart machen kann, ist im Bootsbau unerwünscht: "Die müssen genau verfolgt werden", sagt er. "Sie sind immer eine Schwächung des Materials."

Tim Lenz, schlank, drahtig, hochgewachsen, mit dem kaum Schritt zu halten ist, hat sein Handwerk nach der Realschule und vor dem Abitur am Chiemsee gelernt. Bevor sich der gebürtige Hannoveraner in Bayern selbständig gemacht hat, arbeitete er in Spanien. In der Werft Barcos Deportivos hat er an der von dem Designer Germán Frers entworfenen Syl mitgebaut. Mit den nächsten Superyachten hatte er bei Refit & Repair Marina Barcelona 92 zu tun, ein Betrieb, der auf die Wartung und den Umbau von Luxusbooten von bis zu 70 Metern spezialisiert ist. Zur Geburt der Tochter kehrte er 2007 nach München zurück, lebt mit ihr und seiner Lebensgefährtin in der Maxvorstadt. Werkstatt und Winterlager hat er bei Wolfratshausen.

Seitdem ist die "Vera Mary" genau das, worauf er in diesen Jahren immer gehofft hatte: "Richtiges Bootsbauen, vom Rumpf bis zu den Masten." Nicht nur kleine Reparaturen, weil Zeit und Geld fehlen. Dies ist ein Projekt der Leidenschaft für alle Beteiligten, auch wenn Lenz es pragmatisch ausdrückt. "Es ist mir schon klar, dass ich den Job habe, weil ich Träume erfülle", sagt er. Denn streng genommen: "Kein Mensch braucht ein Sportboot."

Immer wieder hebt Lenz das neue Spant von seinem Platz, schleift oder hobelt es an einem der im Schiffsinneren aufgebauten zwei Arbeitstische nach oder hievt das schwere Stück ganz über eine der Luken im Deck nach draußen, um es noch einmal an die Bandsäge zu legen. Die Männer müssen bei jedem Schritt an schrägen Wänden balancieren und jeden Handgriff in Schräglage ausführen. In dem mit Strahlern und Neonröhren ausgeleuchteten nackten Rumpf gibt es keine ebene Fläche, mit Ausnahme ein paar kurzer provisorisch angebrachter Trittbretter. "Die Jungs sind echte Künstler", nickt Angel, der sonst im Kulissen- und Filmbau und für Special Effects arbeitet, anerkennend in Richtung seiner Kollegen.

Allein der Aufbau einer Schiffswerkstatt in einer Scheune in der platten Provinz kommt einer logistischen Glanzleistung nach. Auf drei Etagen sind Werkzeuge, Material und Maschinen aufgebaut und Schiffszubehör verteilt. Die mächtigen Masten, einer davon trägt allein das Großsegel mit seinen 71 Quadratmetern, liegen aufgebockt samt Wanten und Schäkel neben dem Rumpf und nehmen fast die ganze Länge des Gebäudes ein. Doch für Lenz ist es der ideale Ort für die "Vera Mary", weil durch die Bauweise des Gebäudes - der untere Teil liegt in der Erde - ihr Holz dort nicht so schnell austrocknet.

Bis alle neuen Spanten in dem 22 Meter langen Schiffskörper sitzen, werden noch Wochen vergehen. Nach Hobel, Schinder und Dechsel schlägt dann die Stunde der Kalfateisen: Mit diesen Werkzeugen werden die Planken mit teer- oder leinölgetränktem Hanf abgedichtet werden. Danach geht es an die Aufbauten und den Innenausbau.

Und selbst wenn die "Vera Mary" wieder Wasser unter dem Kiel hat, ist Lenz' Aufgabe nicht beendet. Manchmal sind noch Nacharbeiten fällig, wie ein Gewichtstrimm, damit sie sauber im Wasser liegt. Und er hofft, auch einmal mit ihr in See stechen zu können: Nicht nur, weil er selbst gerne segelt, sondern um zu erleben, wie sie sich zwischen Wind und Wellen macht.

Lesen Sie in der Mittwochsausgabe die letzte Folge unserer Serie: das Handwerk des Geigenbauers

© SZ vom 19.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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