Sie kam als Waisenkind:"Ich bin kein Alien"

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Tinga Horny, Tochter zweier Chinesen, verbrachte ihre glücklichsten Kindheitsjahre in Dietramszell. Dort stellt sie nun ihr Buch "Die verschenkte Tochter" vor

interview Von Stephanie Schwaderer

Tinga Horny war vier Jahre alt, als sie 1962 in München adoptiert wurde. Ihre Mutter, eine chinesische Studentin, hatte sie ein paar Tage nach der Geburt im Waisenhaus in der Paosostraße zurückgelassen. Als Sechsjährige zog sie mit ihren neuen, ihren "richtigen" Eltern von Grünwald nach Peretshofen in die Gemeinde Dietramszell. Dort erlebte sie "eine Verschnaufpause vom Dasein als Alien". Mit 40 Jahren machte sie sich auf die Suche nach ihren leiblichen Eltern. Wohin diese sie führte, davon erzählt Tinga Horny in "Die verschenkte Tochter". An diesem Freitag stellt sie das Buch in der Grabenmühle in Dietramszell vor.

SZ: Welche drei Dinge fallen Ihnen spontan ein, wenn Sie an Ihre Kindheit in Peretshofen denken?

Tinga Horny: Das unbegrenzte Spielen - unser Revier erstreckte sich über das ganze Dorf und die Umgebung. In den 60er Jahren hatten Eltern noch keine Angst, dass ihre Kinder ertrinken oder im Wald verloren gehen könnten. Dann: Dass ich überall mitessen durfte, das war toll! Die Bauern hatten immer große Portionen, da gab es nicht eine Schnitte Brot, da wurde der Laib geholt, an den Bauch gedrückt und eine riesige Scheibe abgesäbelt. Und dann noch die Pferde, die Viecher, wie die Leute sagten.

Was war anders als in Grünwald?

Das Miteinander. In Grünwald war ich ständig mit Kindern konfrontiert gewesen, die mich hänselten oder behaupteten: "Du kommst doch gar nicht aus Deutschland!" Oder: "Meine Mama sagt, dass deine Mama gar nicht deine Mama ist." Dem konnte ich damals nichts anderes entgegensetzen als: "Ihr lügt!" Die Adoption war ein Tabu-Thema in meiner Familie. Ich verstand nicht, warum keiner mir glauben wollte, dass ich eine Deutsche war. Zudem waren das Kinder aus geldigen Familien, die keine Probleme damit hatten zu sagen: "Mein Papa ist reicher und mächtiger als deiner." Auf dem Land gab es das alles nicht.

Sie schreiben von einem Sepp, der Sie gegenüber neugierigen Fremden verteidigt hat. Haben Sie noch Kontakt zu ihm?

Leider nein. Mit zehn Jahren bin ich aufs Internat nach München gekommen. Nach dem Abitur habe ich fünf Jahre in China gelebt. Der Kontakt zu den Nachbarskindern ist abgerissen. Aber der Sepp hätte auch ein Hans oder ein Peter sein können. Wenn Leute von außerhalb kamen und befremdet auf mich reagierten, dann haben die Nachbarskinder gesagt: "Des is die Tinga." Und damit war die Sache erledigt. Für mich war das eine Seelenmassage: Ich war endlich einmal nichts Besonderes.

Als kleines Mädchen trug Tinga Horny vorzugsweise Dirndl. Trotzdem wollten andere Kinder oft nicht glauben, dass sie Deutsche ist. (Foto: privat)

Peretshofen ist unlängst überregional bekannt geworden, weil Flüchtlinge ganz unkompliziert von einer Bauernfamilie aufgenommen wurden. Ist Peretshofen anders als andere bayerische Dörfer?

Nein, das glaube ich nicht. Wir waren und blieben damals Zuagroaste - einmal Stoaderer, allweil Stoaderer. Die Nachbarn kamen aus dem Sudetenland, das waren und blieben die Flüchtlinge. Es wurde genau unterschieden, wer wann wohin gekommen war, und entsprechend bildete sich eine Hierarchie. Noch in den 80er Jahren konnte man nicht erwarten, in die Gemeinde zu ziehen und im Trachtenverein aufgenommen zu werden. Da musste man schon warten. Was ich allerdings für bemerkenswert halte: Die Einwohner damals waren zur Hälfte relativ wohlhabende Bauern und zur anderen Hälfte Handwerker - alles in sich gefestigte Menschen mit einem gesunden Selbstwertgefühl: I bin i. Rassismus gedeiht auf Unsicherheit.

Sie lesen am Freitag im Anwesen der Kinderbuchautorin Sigrid Heuck, die vor einem Jahr gestorbenen ist. Haben Sie Erinnerungen an sie?

Vor allem an ihre Mutter und deren Ponyhof, auf dem ich viel Zeit verbracht habe. Ich war damals eine Pferdenärrin, ich habe gewiehert! Sigrid Heuck hatte immer schon große Pferde. Ich sehe sie reiten. Und an ihrem großen Schreibtisch sitzen, mit all den Zeichnungen um sich herum. Sie war eine Erwachsene mit einer ganz besonderen, ruhigen Art. Wie sie sich Zeit nahm, einem Dinge zu erklären, das ist mir lebendig in Erinnerung.

Sie selbst waren ebenfalls eine reife Frau, als Sie begannen, für sich die Geschichte Ihres Lebens zu klären. Warum haben Sie so lange damit gewartet?

Der Auslöser war der Tod meines deutschen Vaters. Mir ist bewusst geworden, dass Zeit endlich ist. Es ist typisch, das habe ich mittlerweile gelernt, dass Adoptivkinder in der Mitte des Lebens nach ihren Wurzeln zu suchen beginnen - sofern sie das in der Pubertät noch nicht getan haben. In unserer Familie ist dieses Thema damals komplett verdrängt worden.

Sind Sie Ihren Eltern nicht böse, dass sie Ihre Adoption tabuisiert haben?

Nein. Sie haben sie ja nicht geleugnet, es wurde einfach nicht darüber gesprochen. Wir waren eine Familie, alles andere war unwichtig.

Aber Ihre Eltern haben Sie allein gelassen. Auch als Zehnjährige im Internat.

Man darf das nicht mit heutigen Augen sehen. Der Blick ändert sich von Generation zu Generation. Meine Mutter ist mit vier Jahren in ein Sanatorium gekommen und hat ihre Mutter in dieser Zeit nur einmal im Jahr gesehen. Ich bin kein sentimentaler Mensch. Aber es stimmt: Wenn mir meine Eltern damals erklärt hätten, weshalb die anderen Kinder mich auslachen, hätte ich mich vielleicht leichter getan.

Tinga Horny war Anfang der 60er-Jahre das einzige chinesische Adoptivkind in München. Heute lebt die freie Journalistin in der Nähe von Kiel. (Foto: privat)

Sie haben eine enorme Recherche-Arbeit betrieben. Am Ende steht eine Mischung aus Enttäuschung und Befreiung. Für wen haben Sie das Buch geschrieben?

Zunächst einmal für mich. Schreiben ist eine Art von Therapie. Was ich erkannt habe: Mein Leben ist Zufall, um ein Haar wäre ich in Hongkong oder in Amerika aufgewachsen. Zum anderen habe ich das Buch für meine Eltern, meine richtigen, deutschen Eltern, geschrieben, das heißt, für meine Mutter. Ich habe versucht, ihr Dinge zu erklären, die ich ihr so nie hätte sagen können. Aus den Reaktionen, die ich bislang bekommen habe, weiß ich, dass meine Geschichte Adoptiveltern und- kinder anspricht: Wir müssen wissen, wo wir herkommen! Wir müssen wissen, warum wir aussehen, wie wir aussehen! Weil wir sonst nicht auf dem Boden stehen können, weil uns sonst der kleinste Wind umweht. Seit ich weiß, wer meine leiblichen Eltern sind, weiß ich, dass ich nicht vom Himmel gefallen bin, dass ich kein Alien bin.

Können Sie mittlerweile darüber lachen, wenn jemand Sie fragt, warum Sie so gut Deutsch sprechen?

Leider nein. Da bin ich absolut humorlos. Aber ich diskutiere gerne und regelmäßig über die Frage: Was ist deutsch? Wer ist ein Deutscher?

Sie schreiben sich viele deutsche Eigenschaften zu, neben Pünktlichkeit und Verlässlichkeit: Arroganz, Offenheit bis zur Taktlosigkeit, selbstzerfleischende Skepsis. Erkennen Sie an sich auch etwas typisch Bayerisches?

Vielleicht umgekehrt: Wenn Sie mich fragen, was meine Heimat ist, dann würde ich sagen: Dieser Zungenschlag, diese Sprache, die ich nie gesprochen habe, aber so gut verstehe - das ist meine Heimat.

Tinga Horny liest am Freitag, 11. September, von 19.30 Uhr an in der Grabenmühle 5, Einöd (Gemeinde Dietramszell); der Eintritt ist frei. Das Buch "Die verschenkte Tochter" ist bei Bastei Lübbe erschienen und kostet 8,99 Euro.

© SZ vom 10.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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