Plätze, die fast keiner mehr kennt:"Wer könnte noch etwas wissen?"

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Diese Frage hat Gisela Schinzel-Penth jahrzehntelang lang durchs Oberland getrieben. Sie hat alle Sagen und Legenden gesammelt, derer sie habhaft werden konnte

Von Stephanie Schwaderer

Ob Geisterfräulein oder Mann ohne Kopf - seit fast 60 Jahren trägt die Münchner Volkskundlerin und Schriftstellerin Gisela Schinzel-Penth Geschichten aus dem Münchner Umland zusammen, die man sich einst nur zugeraunt hat. Mehr als 2000 Sagen und Legenden hat sie in 13 Büchern gesammelt. Die "Sagen und Legenden um Fünfseenland und Wolfratshausen" etwa sind in einem mehr als 400 Seiten starken Werk zusammengefasst und gehen demnächst in die vierte Auflage. Zuvor muss die Autorin am 20. November aber ihren 75. Geburtstag feiern.

SZ: Frau Schinzel-Penth, sind Sie schon einmal einem Wesen wie dem Wolfratshauser Marktgschlerf begegnet?

Gisela Schinzel-Penth: Nein, und da bin ich auch froh darüber. Auch dem schwarzen Mann vom Tölzer Friedhof möchte ich nicht begegnen und schon gar nicht der Wilden Jagd bei Dorfen.

Aber Sie gruseln sich gerne?

Eigentlich nicht. Als junge Frau kam ich meist erst zum Schreiben, wenn die Kinder schliefen und der Haushalt erledigt war, dann ging es oft schon auf Mitternacht zu, wenn ich noch einmal mit dem Hund raus musste. Und ich hatte den Kopf voll dieser unheimlichen Dinge. Das mochte ich gar nicht, da bin ich immer ganz schnell wieder zurück nach Hause.

Was treibt Sie dann dazu an, diese Geschichten zu sammeln?

Meine Leidenschaft gilt der Heimat. Wenn man weiß: In diesem Hügel liegt ein Schatz verborgen, oder da ist ein unterirdischer Gang, dann bringt einem das die Umgebung näher. Das gilt auch für Zugezogene. Die Menschen müssen heutzutage ja viel umziehen. Sagen und Legenden, die vor der eigenen Haustüre spielen, helfen einem, in der neuen Umgebung heimisch zu werden.

Umgekehrt lassen einem manche Ihrer Geschichten die vertraute Umgebung fremd erscheinen. Wenn man etwa Ihre Sagen von Wolfratshausen und Umgebung liest, könnte man meinen, der Boden sei von unzähligen Gängen geradezu durchlöchert. Gibt es diese Geheimgänge wirklich?

Die gibt es! Ich habe in viele Gänge hineingehen dürfen. Häufig sind es Fluchtgänge. Es gab in der Gegend ja viele Raubritter, die haben die Flussstraßen kontrolliert. Manche Gänge sollen sogar unter der Isar durchgeführt haben, das konnte ich aber nie nachvollziehen. So soll es etwa einen Geheimgang von Schloss Eurasburg nach Harmating geben. In Eurasburg haben Sie mich leider nicht in die Gänge gelassen.

Sie haben es versucht?

Ja, als die neuen Eigentümer das Schloss umgebaut und in Wohnungen aufgeteilt haben, bat ich, die Gänge sehen zu dürfen. Die Leute haben behauptet, es gäbe keine, dabei ist in einigen alten Überlieferungen das Gegenteil bezeugt. Viele andere Gänge habe ich aber erkundet.

Wie sieht es denn da so aus?

Oft sind sie gemauert, aber meist nur am Anfang. Die Bauern nutzen sie noch als Wein- oder Bierlager. Weiter hinten sind sie dann nur ins Erdreich gegraben.

Und da sind Sie hineingekrochen?

Als ich jünger war, schon. Manche Bauern haben gesagt: Du musst ein Licht mitnehmen, und wenn die Kerze anfängt zu flackern, drehst wieder um. Weil es dann zu wenig Sauerstoff gibt. Sie selbst sind als Kinder von ihren Großvätern vor den Gängen gewarnt worden - und haben sich doch nicht abschrecken lassen. Viele Gänge sind teilweise verschüttet, weil es im Laufe der Jahrhunderte Erdbewegungen gegeben hat. Es ist äußerst gefährlich hineinzugehen. Deshalb schreibe ich in meinen Büchern auch nie genau, wo sich die Eingänge befinden. Aber wenn ein Heimatforscher das von mir wissen will, kann ich es ihm sagen.

Wie haben Sie diese Eingänge entdeckt?

Die Einheimischen haben sie mir gezeigt, sonst findet man sie nicht.

Und wie haben Sie die Einheimischen gefunden? Sind Sie durch die Gegend gefahren und haben an Türen geklopft?

So habe ich es vor 50 Jahren gemacht, als ich Mitte Zwanzig war. Später bin ich meist erst zum Pfarrer gegangen und hab ihn gefragt: Wer im Ort könnte noch etwas wissen? Und er hat mich dann weitergeschickt. Die Leute haben mir meist sehr lieb die Tür aufgemacht und mir gerne etwas erzählt.

Wann genau haben Sie Ihre Leidenschaft für Sagen entwickelt?

Mit 17 am Gymnasium in München. Wir bekamen die Aufgabe, in unserem privaten Umfeld nach Sagen zu suchen, und ich erinnerte mich an meine alte Volksschullehrerin. Die hatte uns immer gruselige Sachen erzählt. Darunter die Geschichte von einem Grenzsteinversetzer. Er soll auf einem Feld umgegangen sein, an dem ich als Schulkind immer vorbei musste. Deshalb wollte ich genau diese Sage wiederfinden. Aber weder meine Verwandten noch meine Nachbarn konnten sie mir noch erzählen. Also wollte ich meine alte Lehrerin besuchen, aber die war mittlerweile in einem Altenheim in Dießen - für mich damals unerreichbar. Aber ihre Nachfolgerin, eine junge Lehrerin, hat sich dann auch für die Geschichte interessiert und ist zu ihr gefahren. Sie hat mir dann die Sage wieder gebracht.

Sie haben die Sage gerettet.

Mir ist an dieser Stelle klar geworden, dass alles vergessen wird, wenn man es nicht aufschreibt. Ich habe sofort angefangen, in meiner Umgebung zu forschen, hab in Archiven gegraben und Aufzeichnungen gemacht. Meine ersten Geschichten hat dann die Süddeutsche Zeitung, damals im Stadtanzeiger, gebracht. Mein erstes Buch habe ich übers Würmtal geschrieben, da konnte ich mit dem Radl hinfahren.

Über die Jahre haben Sie Ihr Forschungsgebiet und Ihr Wissen stetig erweitert. Wie viel Wahrheit steckt in Sagen?

Da muss man unterscheiden. Die geschichtlichen Sagen erzählen oft Begebenheiten aus dem Leben der kleinen Leute, der Handwerker und Bauern, etwa aus dem Dreißigjährigen Krieg. Wenn die Bauern erfahren haben, dass die Schweden auf dem Weg in ihr Dorf waren, packten sie all ihre Wertsachen in Töpfe und vergruben sie. Häufig überlebten sie die Überfälle nicht. Deshalb rufen mich heute noch Schatzsucher an und bitten mich um Koordinaten. Die kann ich ihnen natürlich nicht geben. Wenn ich die wüsste, wären die Schätze nicht mehr dort. Auch die anekdotenhaften Sagen wie die vom Krautlöffel in Wolfratshausen und vom Tölzer Prügel haben einen wahren Kern. Anders als die märchenhaften, die sich oft auf Landmarken beziehen. Und dann gibt es noch die Spuksagen von Wiedergängern, Hexentanzplätzen oder Menschen, die ihre verstorbenen Verwandten wiedersehen.

Glauben Leute heute noch an Hexen?

Oh ja, und nicht nur alte. Ich habe mit einigen Frauen geredet, die sich als weiße Hexen bezeichnen. Aber darüber schreibe ich nicht, weil ich diese Kulte nicht weiter befördern möchte. Mein Anliegen ist es, Geschichten zu bewahren.

Haben Sie im Oberland alle Sagen erfasst?

Nein, und das wird nie ein Ende haben. Immer wenn ein neues Buch herauskommt, ruft mich kurz darauf jemand an und sagt: Frau Schinzel, die Gschicht hast aber net drin! Dann treffe ich mich wieder mit den Leuten und schreib mir das auf. So ähnlich war das zuletzt auch mit dem Meteoriten in Oberherrnhausen. In der Kapelle wurde ein Stein aus dem All verbaut. Das hat man erst bei Renovierungsarbeiten gemerkt, als dauernd die Bohrer abgebrochen sind. Diese Geschichte werde ich in der nächsten Auflage erzählen. So werden die Bücher im Laufe der Jahre immer dicker.

Was sagt denn Ihr Mann zu Ihrer Leidenschaft?

Er ist Architekt und hat viele Zeichnungen zu meinen Büchern gemacht, das war für uns immer schön. Und er ist mit mir in die unterirdischen Gänge gegangen, wenn ich mich gefürchtet habe, und hat mich an andere unheimliche Orte begleitet. Man muss ja immer auch nachschauen, ob die Dinge noch da sind, von denen einem erzählt wird. Wir sind seit fünfzig Jahren verheiratet und immer noch gerne zusammen unterwegs.

Haben Sie eine Lieblingssage?

Die Isarnixe mag ich gerne. Sie verbindet eine geschichtliche mit einer Spuksage. Ein hochmütiges Burgfräulein wirft ihr Geschmeide in die schäumende Isar, auf dass ein Musikant, der sie verehrt, es ihr heraus tauche. Der junge Mann stirbt. Und auch das Burgfräulein verschwindet. Fortan sieht man häufig oben am Georgenstein eine Nixe sitzen. Sie singt ähnlich wie die Loreley bezaubernde Lieder und reißt die Flößer in den Tod. Nur einer hat sich wie Odysseus die Ohren verstopft und deshalb überlebt. Noch heute soll man ihre Zaubergesänge hören.

Ihr würde man ja vielleicht doch gerne begegnen.

Ich nicht! Ich mag doch nicht in der Isar ertrinken.

Sie feiern am Samstag Ihren 75. Geburtstag, was haben Sie sich für die Zukunft vorgenommen?

Ich mache weiter. Erst hatte ich ja gedacht, ich könnte ganz Bayern schaffen. Aber das ist unmöglich. So lange lebe ich nicht. Dann müssen Jüngere übernehmen.

© SZ vom 18.11.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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