Mitten in Wolfratshausen:Poesie und Politik

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Conrad Ferdinand Meyers "Römischer Brunnen" hat ein Pendant bei der Littig-Villa

Von Wolfgang Schäl

Früher, da mussten wir Schüler noch Gedichte auswendig lernen, beispielsweise Conrad Ferdinand Meyers "Der Römische Brunnen". Der galt als tolles Meisterwerk der gehobenen Reimkunst und soll hier zitiert werden. Keine Angst, das Gedicht ist nur kurz und wie schon die Überschrift nahelegt, geht es um einen Brunnen:

"Auf steigt der Strahl, und fallend gießt er voll der Marmorschale Rund, die, sich verschleiernd, überfließt in einer zweiten Schale Grund; die zweite gibt, sie wird zu reich, der dritten wallend ihre Flut, und jede nimmt und gibt zugleich und strömt und ruht."

Klar, dass wir so was derart Hintergründiges gefühlte fünf quälende Schulstunden lang interpretieren mussten. Die Deutung, soweit noch erinnerlich, ging ungefähr so: Der Brunnen sei ein Sinnbild des Lebens und stehe für das Nehmen und Geben, für das Schaffen und Ruhen, das dem Dasein des tätigen Menschen seinen wahren Sinn verleiht. Anzumerken ist noch, dass Meyers Brunnen vermutlich im Park der Villa Borghese in Rom steht und auch von Rainer Maria Rilke besungen worden sein soll. Warum wir das alles erzählen? Nicht, weil wir zufällig am Rilkeweg wohnen, sondern weil es in Wolfratshausen einen solchen prima Sinn-Brunnen auch gibt, nämlich vor der Littig-Villa, wenngleich das hiesige Modell weit weniger prächtig ist als das römische und der umgebende Park nur ein bescheidenes Gärtlein. Aber egal, fürs exemplarische Nachdenken reicht es völlig.

Und so werden wir nicht müde, im Vorbeispazieren immer mal wieder zu überlegen, was das Wolfratshauser Wasserspiel uns sagen will. Ist es womöglich ein wahrhaftes Sinnbild dieser Stadt, in der doch auch so vieles überquillt, um alsbald, sich verschleiernd, zur Ruhe zu kommen, anschließend ins unterste Becken zu plätschern und unverändert in der obersten Schale wieder aufzutauchen, ein ewiger Kreislauf, in dem sich die Schalen stets aufs Neue vollschütten mit dem immer gleichen Wasser? Wie schade, dass das rauschende Symbol nicht vor dem Rathaus steht und die Bürgervertreter, die sich darin tätig um unser Wohl bemühen, daran erinnert, dass nicht nur geruht, sondern auch gewallt und geströmt werden muss. Denn sonst funktioniert ja der ganze Brunnen nicht.

© SZ vom 26.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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