Mitten in Wolfratshausen:Die Freuden der Kleinstadt

Lesezeit: 1 min

Man kennt einander, man grüßt einander - und dank dieser Sache in der Marktstraße hat man immer etwas zu plaudern

Glosse von Wolfgang Schäl

Eine Kleinstadt wie Wolfratshausen bietet Vorteile, die man gar nicht gering schätzen darf. Dazu zählt zum Beispiel, dass es im hiesigen Rathaus eine blitzsaubere, kostenlose öffentliche Toilette gibt, die sich, anders als jene in Bad Tölz, nicht vollelektronisch, sondern mit einem altmodischen Drehgriff verriegeln lässt, was insbesondere dem technikfeindlichen und klaustrophoben Senior die Angst nimmt, durch eine falsche Bedienung der Türauf-App bis zum jüngsten Tag lebendig eingeschlossen zu sein. Schade ist nur, dass sich die Benutzung dieses vertrauten Örtchens, das nur Eingeweihte kennen, derzeit erübrigt, weil man ja nirgends hingehen kann, wo es was zu trinken gäbe, wodurch wiederum jegliche Notdurft ausbleibt.

Zu den angenehmen Seiten dieser Kleinstadt zählt aber auch, dass man fußläufig überall hin kommt und im Lauf der Jahre auf seinen Stammstrecken selbst bei geschlossenen Augen sicher wandeln kann, zu allen Tages- und Nachtzeiten. Wobei - bisschen aufpassen muss man nachts schon. Ein weiterer Pluspunkt: Es ist besonders erfreulich, dass man sich, beispielsweise auf der Rennstrecke zwischen Rilke-Weg und Schwankleck, im fußläufigen Gegenverkehr in aller Regel freundlich grüßt, ohne einander zu kennen. Man stelle sich als Kontrastprogramm die Münchner Fußgängerzone vor - Abertausenden müsste man da ein unverbindliches "Griaß eana" zurufen oder unter der grausligen Corona-Maske nett zulächeln. In Wolfratshausen dagegen sind die Einkaufsmöglichkeiten in der verkehrsmäßig bestens erschlossenen City angenehm übersichtlich - ein weiterer Vorteil, den man in die Waagschale legen muss.

Manchen Passanten kennt man hier sogar: Herrchen und Frauchen mit Wauzi und Struppi, den bedauernswerten ehemaligen Museumsleiter, der zur Zeit ein schlimmes Knie hat, die fortgeschrittenen Semester, die sich an ihren Gehwägelchen durchs Getümmel schieben, die jungen Mütter mit ihrem brüllenden Nachwuchs. Manchmal entspinnt sich da spontan eine kleine Plauderei, die in diesen elenden Pandemie-Tagen besonders guttut. Da gibt es beispielsweise ein höchst ergiebiges spezifisch Wolfratshauser Dauerthema zu besprechen: die Kaufhausruine in der Marktstraße. Die haben wirklich nur wir, ganz exklusiv. Schade, dass dieses markante Kunstwerk, wie es heißt, bald verschwinden soll. Man sollte es besser lassen, wie es ist, mittlerweile liebt man es doch gerade als Ausdruck einer kleinstädtischen Gesinnung.

© SZ vom 27.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: