Mitten in Münsing:Fragt sich, wo das Wadl ist

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Trachten-Unkenntnis oder doch Trendsetting?

Von Benjamin Engel

Manches erscheint auf den ersten Blick perfekt, stellt sich bei genauerem Hinschauen aber doch als wenig stimmig heraus. So sieht der junge Mann in Tracht am Rande des Festzelts mit seinem dunklen, akkurat zurechtgestutzten Vollbart wirklich schneidig aus. Die Messingknöpfe am dunkelgrünen Gilet, der ärmellosen Weste, blitzen. Und in die Tasche der kurzen Lederhose hat der junge Mann sogar einen Hirschfänger gesteckt. Damit genügt er der Tradition. Man denkt bei sich: sauber! Doch dann schweift der Blick zu den Beinen. Und man denkt bei sich: oje!

Denn die wollenen graugrünen Wadlstrümpfe hat der stylische Trachtler über die Knie gezogen. Die sind gut bedeckt, und alles unterhalb liegt frei. Die Wadlstrümpf sitzen also keineswegs da, wo sie eigentlich hingehören: eben an den in diesem Fall nicht auffallend kräftigen Unterschenkeln. Lisa Grasl, von Kindheit an im Trachtenverein "Seeröserl" Ammerland-Münsing aktiv und Frau des Münsinger Bürgermeisters, hat's gesehen und kann nicht mehr still sitzen. "Soll ich zu ihm hingehen und ihn darauf ansprechen?", fragt sie ihre Sitznachbarn. "Die gehören doch an die Wadln." Oder sind die Beine des Mannes womöglich zu mager, so dass die Strümpfe an der richtigen Stelle nicht zur Geltung kommen? Sie hadert sichtlich mit sich. Schließlich tut sie nichts. Quer gestellte Bierbänke versperren ihr ohnehin den Weg.

So wird der junge Mann sein Malheur womöglich wiederholen, in Unkenntnis dessen, dass es sich überhaupt um ein Malheur handelt. Womöglich ist das Ganze nur eine modische Verirrung. Vielleicht ist der Möchtegern-Stenz gar ein modischer Trendsetter? Schließlich entstand die Tracht, so wie sie heute bekannt und überliefert ist, auch erst im 19. Jahrhundert.

© SZ vom 15.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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