Mitten in der S-Bahn:Der Lauscher an der Wand

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In der S-Bahn bekommt man einiges zu hören

Kolumne Von Annalena Ehrlicher

Unter den Trends der vergangenen Jahre sticht einer zweifelsfrei besonders penetrant hervor: der kalifornische Lifestyle-Kult, der sich unerbittlicher als jede Herbstgrippe selbst bis in die letzte Gemeinde des bayerischen Oberlands verbreitet hat. Vieles wird der Jugend nachgesagt, aber dank Youtube ist das eigentliche Laster der Jugend im Jahr 2018, dass sie keine Laster mehr hat: Niemand raucht mehr, Fleisch kommt nur noch den Ewiggestrigen auf den Teller, selbst Alkohol wird nur noch zu bestimmten Anlässen konsumiert. Junge Menschen machen wieder Sport, statt gemeinsam zu feiern meditieren Erstsemester mittlerweile. "Achtsamkeit" lautet das neue Stichwort: Um gesund zu bleiben und der eigenen Firma durch lästige Burn-outs keine Kosten zu verursachen, ist der gute Staatsbürger mittlerweile dazu angehalten, ständig in sich zu hören.

Nun ist das mit dem In-sich-Hören aber gar nicht so leicht im hektischen Alltag. Sitzt man beispielsweise in der S-Bahn, bereit dazu, alles Äußere zu unterdrücken und sich nur auf die innere Stimme zu konzentrieren, dann sitzt immer - immer! - jemand in der Nähe, dessen Leben einfach ein wenig spannender ist, als die eigene innere Stimme. Die erzählt ja meistens doch nichts Neues.

Ein Beispiel: Wenn nebenan zwei Schüler sitzen, die dem einen universellen Laster frönen, das auch vom Veganismus nicht verdrängt wurde: Der Liebe! Ob Rebeca nun Lukas oder Sebastian angelächelt hat und was es bedeutet, dass Lisa Lukas in der Pause immer die kalte Schulter zeigt - da tobt das Leben noch! Und wenn Sebastian dann sagt "Die steht auf dich, ich schwör's dir", und Lukas darauf hin unter seiner Basecap ganz leicht errötet und "Ja, keine Ahnung" murmelt, allerspätestens dann hat die eigene innere Stimme nichts mehr zu melden.

Der Volksmund weiß zwar: "Der Lauscher an der Wand hört meist seine eigene Schand'". Der Lauscher in der S-Bahn hingegen ist einfach nur so nah am Leben dran, wie man sein kann. Und das ganz ohne sich selbst zu belauschen.

© SZ vom 29.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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