Mitten in der Region:Piraten in der S-Bahn

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Die Fahrt von München nach Wolfratshausen könnte so schön sein ...

Kolumne von Benjamin Emonts

Eine S-Bahnfahrt von München nach Wolfratshausen wäre ja eigentlich ganz nett. Spätestens nach der Haltestelle Baierbrunn passiert der noch leicht verschlafene Fahrgast gelb leuchtende Felder mit Sonnenblumen, Wiesen mit Kühen oder er bekommt, wie kurz vor der Ortschaft Icking, einen wundervollen Blick auf die Alpen. Auf der letzten Etappe nach Wolfratshausen schlängelt sich die Bahn dann durch einen steil ansteigenden Blätterwald, durch dessen Wipfel die Sonne schimmert. Es geht weiter über die Loisach. Und mit etwas Glück lässt sich dort sogar beobachten, wie Männer eines der massiven Flöße ins Wasser lassen, um später Betriebsausflügler oder andere lustige Gesellschaften bei Blasmusik über die Isar zu schippern.

Wie gesagt: Das wäre ja alles ganz nett, würde man sich nicht auf dem Weg in die Arbeit befinden. Für den Berufstätigen, der täglich aus der Landeshauptstadt ins Outback tingelt, wird Wolfratshausens schöne Flusslandschaft auch zum Verhängnis. Während vor einem selbst noch acht Stunden Arbeit liegen und die Vorstellung an den entfernt liegenden Urlaub noch sehr vage ist, steigt morgens im Bahnabteil nämlich bereits die fette Party. Junge Frauen und Männer schleppen kistenweise Bier, Wein und Aperol Spritz in die Bahn, um sich dann ganz verzweifelt zu fragen, wo denn der Holunder-Sirup für den Hugo abgeblieben ist. Riesige Probleme! Aber als wäre das nicht genug, tragen sie auch noch Augenklappen und Piratenhüte und singen schlechte Kapitänslieder, die sie vermutlich im Musikantenstadl oder irgendeiner anderen Schlagerhitparade aufgeschnappt haben. Unter ihren Armen klemmen Luftpumpen und Billigschlauchboote, die so klangvolle Namen wie "Seahawk" oder "Voyager" tragen. In Wolfratshausen oder Icking machen sie die Isar unsicher. Wenn sie dann flussabwärts in Thalkirchen in München ankommen, ist der eigene Arbeitstag noch immer nicht vorbei. Obwohl die Piraten ziemlich genervt haben - ein bisschen fies fühlt sich das schon an.

© SZ vom 29.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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